Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

C. Orff – Carmina Burana
Anima Eterna, Collegium Vocale Gent, Cantate Domino – J. v. Immerseel, div. Solisten

(2014)
zig-zag territoires / outhere music

• • • • •

Carl Orff - Carmina Burana

"Zurück zur Partitur"

von Rainer Aschemeier  •  7. November 2014
Katalog-Nr.: ZZT353 / EAN: 3760009293533

Carl Orffs Vertonung der „Carmina Burana“, weltlichen und geistlichen Gesängen aus dem Kloster Benediktbeuren, ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder Gegenstand von Kritik und Spott gewesen. Was hat man diesem Werk nicht alles unterstellt. Dabei trug oft mit dazu bei, dass Orff als politische Person zur Zeit des Nationalsozialismus durchaus eine zwielichtige Figur abgegeben hatte, um es milde zu formulieren.

Nun erscheint mit der Einspielung des Orchesters Anima Eterna Brügge unter der Leitung seines Gründers und langjährigen künstlerischen Leiters Jos van Immerseel eine Aufnahme, die uns keck verspricht, man würde jetzt einmal aufräumen mit allen Vorurteilen. Denn – hört, hört! – man kehre nun „zurück zur Partitur“, und das beseitige eigentlich schon alle Fragen. Nun sollte man meinen, dass eigentlich jedes Orchester und jeder Dirigent die Absicht haben sollte, zur Partitur „zurückzukehren“, wenn ein musikalisches Werk aufgeführt werden soll. Insofern ist der Einführungstext zu der neuen Carmina Burana-CD schon wirklich fast lachhaft.

Aber es steckt auch ein Körnchen Wahrheit darin: Alljährlich im Sommer sieht man europaweit Plakate für gigantomanische Massenveranstaltungen, die die gewisse „Carmina Burana Experience“ versprechen, Chöre mit Tausend Sängern auffahren, Tänze und mittelalterliche Spaktakel in Fußballstadien auflodern lassen.
Dass das nicht so ganz im Sinne des Erfinders sein würde, dürfte klar sein.

Betrachtet man die Carmina Burana einmal objektiv, erkennt man, dass Orff mit ihr einst ein wirklich visionäres Werk vorgelegt hatte. Teile der Partitur klingen fast wie frühe Anflüge von Minimal Music. Hört man auf die Instrumentierung, ist festzustellen, dass das Werk zwar sehr viele Instrumentalisten vorsieht, dass diese aber durchaus differenziert eingesetzt werden und nicht ständig im Tutti Bombast verbreiten.

Und so darf gemutmaßt werden, dass es vor allem der prachtvolle Eröffungschoral „O Fortuna“ ist, der bis heute anhand von Werbespots und anderen Momentaufnahmen das Bild von Orffs Carmina Burana prägt. Angewidert von dieser choralen Klangwand werfen scheinbar gleich viele Leute das Handtuch und beschäftigen sich gar nicht erst mit dem Rest des Stücks.

Zugegeben, Orffs Carmina Burana wird man bei all ihrer visionären Gestaltung, die ohne Frage erstaunlich weit in die Zukunft der Musik zu blicken verstand, schwerlich als geniale Komposition einstufen können. Dafür sind auch andere Werke Orffs, wie etwa die Oper „Der Mond“ zu gut, um die Carmina Burana daneben genial aussehen zu lassen. Doch als Objekt von Hohn und Spott ist das Stück ebensowenig geeignet.

Schauen wir aber auf diese aktuelle Neuaufnahme des Werks, die ja immerhin von dem Brügger Orchester stammt, dem wir eine der the-listener.de-CD des Jahres 2011 zu verdanken hatten. Eigentlich ist fast alles einsame Spitze, was bislang aus Richtung Brügge zu vernehmen war. Und diese Carmina Burana – so viel sei verraten – macht dabei keine Ausnahme.
Dass nun so viel Aufhebens gemacht wird um diese Einspielung in Sachen „wir haben ein kleineres Orchester“ und „wir haben mal wieder in die Originalpartitur geguckt, und alles ist anders“ ist hingegen sehr irreführend. Van Immerseels Carmina Burana unterscheidet sich kaum von klassischen Einspielungen wie derjenigen Kurt Eichhorns aus den 1970er-Jahren oder den legendären Herbert Kegel-Aufnahmen aus den 1950ern und ‚60ern, die Komponist Orff sich Berichten zufolge seinerzeit selbst aus der damaligen DDR hat schicken lassen.
Auch moderne Referenzen wie etwa Simon Rattles Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern und Spitzenbariton Christian Gerhaher sind nicht so weit entfernt von Immerseels ebenfalls prächtiger, absolut makelloser Aufnahme entfernt.

Das, was Immerseels Deutung ausmacht ist wie immer sein persönlicher Stil, der manche Rückung anders ausleuchtet, sehr viel Wert auf’s Detail legt, manchmal gerade dabei auch über das Ziel hinaus schießt, sodass die Musik auch einmal pädagogisch bis didaktisch klingt, nach dem Motto: „Hört doch bitte mal auf diese Stelle, denn die machen wir anders als andere Orchester!“.
Und, klar, Immerseel und seine Leute trauen sich auch etwas: Wer etwa hätte sich bislang getraut, „Estuans interius“ derart „nichtgesungen“ in den Äther zu schmettern, als beinahe schon lallendes Kneipenlied eines immens Besoffenen. Das trifft den Inhalt sicher ganz gut, ist aber mit einem „zurück zur Partitur“ kaum zu erklären – eher mit dem Mut der Ausführenden und dem gewissen Schalk im Nacken, den man sich hier zutraute. Und das sind dann auch wirklich besondere Momente, denn wie viel schöner und spannender klingt das in Thomas Bauers Fassung im Vergleich etwa zu einem fast schon lächerlich opernhaften Thomas Hampson in der klassischen Seiji Ozawa-Einspielung mit den Berliner Philharmonikern aus den späten 1980er-Jahren.

Objektiv gesehen ist, abgesehen von solchen Details und einer insgesamt leicht veränderten Orchesterbesetzung, die sich im Wesentlichen in einer Reduzierung der Streicher niederschlägt, diese Carmina Burana einfach eine der besten seit Jahren und dabei erfreulicherweise gar nicht so „unnormal“. Dieses Urteil entspringt aber vor allem der wieder einmal stupenden Qualität des Orchesters aus Brügge und der musikalischen Kraft ihres wie immer überzeugenden Leiters. Außerdem hat man hervorragende Solisten bei der Produktion dabei und zwei absolut sensationelle Chöre, denen man ohne mit der Wimper zu zucken Weltniveau bescheinigen wird, wenn man sie hört. Und so sind die heimlichen Stars dieser Einspielung die Gesangsensembles Collegium Vocale Gent und Cantate Domino, die diese Carmina Burana zu etwas ganz Besonderem machen.

Fazit: Während die Werbung viel substanzloses Getue abseiert, freut sich der objektive Hörer einfach über eine der besten Carmina Burana-Aufnahmen, die derzeit erhältlich sind. Und das ist eigentlich auch genug, um diese Platte zu 100% empfehlenswert dastehen zu lassen.

Stöbern

Verwandte / ähnliche Artikel:

Archiv

Alle Reviews können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.