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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

R. Vaughan Williams - Sinfonien Nr. 1-9
Staatssinfonie-orchester des Kultusministe- riums der UdSSR - G. Roschdestwenskij

(2014)
Melodiya

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Ralph Vaughan Williams - Sinfonien Nr. 1-9

Völlig unkonventioneller Vaughan Williams-Zyklus aus dem Russland der 1980er-Jahre! Eine Entdeckung aus dem Archiv

von Rainer Aschemeier  •  26. Juni 2014
Katalog-Nr.: MEL CD 10 02170 / EAN: 4600317021703

Was hier höchst unerwartet das Licht der Welt beim russischen Melodiya-Label erblickt hat, ist – man muss es einfach mal so in den Raum stellen – schon einfach eine extrem abgedrehte Sache. Es geht hier nämlich um nichts Geringeres als die erste russische (!) Gesamteinspielung der neun Sinfonien des großen britischen Sinfonikers Ralph Vaughan Williams, der gemeinhin wie kein Zweiter als die Verkörperung der englischen Musikkultur schlechthin gilt.

Gennadij Roschdestwenskij, einer der fleißigsten „Sinfoniengesamteinspieler“, die es so gibt (Roschdestwenskij hat unter anderen einen seinerzeit extrem hoch gelobten, bei näherer Betrachtung aber über weite Strecken eher durchschnittlichen Schostakowitsch-Zyklus bei Melodiya ebenso eingespielt, wie die gesamten Sinfonien von Franz Schmidt (chandos), P.I. Tschaikowksy (Olympia), Alexander Glasunow (Olympia), Alfred Schnittke (chandos), Carl Nielsen (chandos), Alexander Borodin (chandos) und George Enescu (chandos), um nur einmal ein paar der vielen Gesamtzyklen unter Roschdestewenskijs Leitung zu erwähnen.

Der vorliegende Vaughan Williams-Zyklus – realisiert in den späten 1980er-Jahren im Rahmen einer kontinuierlichen Abfolge von Rundfunkaufnahmen – ist bislang noch nie auf CD erschienen, und – so wie ich das nachvollziehen konnte – außerhalb Russlands auch nie auf Schallplatte.
Wir haben es hier also mit richtiggehenden Raritäten aus der Klamottenkiste des einstigen Sowjetstaatslabels Melodiya zu tun, und es ist schlichtweg gesagt, ein großes Vergnügen diese Aufnahmen anzuhören. Das beginnt mit dem hanebüchen radebrechenden Englisch des Chors des (damals noch) Leningrader Konservatoriums, der diese Gesamtschau schon mit markerschütterndem Akzent („Biejcchhollt da ßie itsälf…“) eröffnet. Doch die echten Aussprache-Knüller kommen, wenn die Solisten ihre Parts in erstaunlichstem Sowjet-Englisch vortragen. Es wird einem ganz heiß und kalt beim Hören!

Doch es wäre natürlich unfair, die Qualität dieser Interpretation an der Textperformance seiner Interpreten zu beurteilen. Der Chor singt den Umständen entsprechend (für die damaligen Interpreten sicherlich vollkommen unbekannte Musik, Livemitschnitt, Rundfunkaufnahme) vergleichsweise sehr gut, wenngleich die gesamte Angelegenheit – und dann eben doch nicht zuletzt aufgrund des ausufernden russischen Akzents der Sänger – sehr hölzern wirkt. Gleiches gilt für die Solisten: Sehr gute Stimmen, aber man merkt, dass diese Solisten sich in einer Schostakowitsch-Sinfonie wohler fühlen würden.

Das wahrhaft Frappierende an diesem Zyklus sind dann auch die reinen Orchestersinfonien, bei denen Roschdestwenskij mit seinem Sinfonieorchester des Sowjet-Kultusministeriums (mit dem er etwa zur selben Zeit auch seinen gefeierten Schostakowitsch-Zyklus eingespielt hatte) wirklich aufsehenerregende Akzente setzen kann. So wirft er etwa die britische Interpretationstradition teilweise völlig über den Haufen und bricht mit gängigen Mustern.
Noch nie habe ich die Eröffnung der „London Symphony“ so langsam und düster gehört. Das ist nicht der wabernde Nebel über der Themse, der in den Zyklen von Previn, Haitink oder Handley auch schon mal beinah idyllisch rüberkommt. Diese Eröffnung ist bei Roschdestwenskij eine existenzielle Angelegenheit! Hier geht es nicht um Tonmalerei (selten ist der sonst klar und deutlich hörbare Glockenschlag von „Big Ben“ so bewusst ignoriert worden), hier geht es nicht um den Morgen vor dem Erwachen einer großen Stadt. Hier geht es um Geburt, um das Nichts vor dem Sein des Menschen. Roschdestwenskij nimmt Vaughan Williams‘ Konzept einer Stadtsinfonie und baut das Ganze um. Bei ihm wird die „London Symphony“ zu einer Sinfonie des Werdens und Vergehens. Das ist höchst erregend und ungemein einfallsreich. Und ich finde das Ergebnis absolut genial, selbst, wenn es mit den ursprünglichen Intentionen des Komponisten nicht mehr so viel zu tun haben mag.

Freilich ist manches auch in den Instrumentalsinfonien amüsant. Man höre sich etwa das Scherzo aus Vaughan Williams‘ Achter an: Wer da in Roschdestwenskijs Lesart nicht an Schostakowitsch denkt, ist wohl taub. Die typischen Trademarks russischer Bläsergruppen der großen Sinfonieorchester spielen hierbei eine Rolle: Die unbedingte Exaktheit, quirlige Wendigkeit und volkstonnahe Ausrichtung der Holzbläser und der zum steten Übertreiben neigende Fanfarenklang der Blechbläser.

Bei der populären fünften Sinfonie entsteht unter Roschdestwenskijs Stabführung weniger eine neoklassizistische Pastoralidylle, wie wir sie von britischen Orchestern her kennen, sondern eher eine an Gustav Mahler erinnernde Sinfonieästhetik, bei der der russische Dirigent penibel darauf bedacht zu sein scheint, die bei dieser Musik sonst so verbreitete Legatoverliebtheit abzuschütteln und die Klänge jederzeit trennscharf zu halten. Das gibt dieser Sinfonie eine ganz ungewohnte innere Spannung, von der sich manch andere Interpret meinetwegen sehr gern mal eine Scheibe abschneiden dürfte. Aufregend!

Kommen wir zu den stärker expressiven Sinfonien, wie der Sechsten oder der Vierten, die von vielen Kommentatoren (nicht so jedoch vom Komponisten) als Auseinandersetzungen mit den beiden Weltkriegen gewertet wurden (manche Schreiber gingen gar so weit, Vaughan Williams‘ Epilog zur Sechsten Sinfonie als ein musikalisches Bild einer Welt nach einem Nuklearkrieg zu deuten, was der Komponist vehement bestritt). Hier verschleiert Roschdestwnskij zu keiner Zeit die auch heute noch bestechende Radikalität und Modernität dieser Stücke, die Vaughan Williams‘ Tonsprache ja bis an den äußersten Rand der Tonalität führten. Aber er deutet sie schon wieder anders, als die meisten seiner zumeist britischen Kollegen. Während etwa in den Aufnahmen von Boult und Previn die Aggressivität der Musik in den Vordergrund gestellt wird, nimmt Roschdestwenskij sein sonst so prall klingendes Orchester in diesen Werken stärker als üblich an die Leine und kitzelt eine ungewohnte Atmosphäre aus Niedergeschlagenheit, Sarkasmus und Verzweiflung heraus, was – wir müssen es kaum noch erwähnen – einmal mehr an die Sinfonien Dmitri Schostakowitschs erinnert.

Für die siebte Sinfonie, die „Sinfonia Antartica“ also, wählte Roschdestwenskij in fast allen Sätzen wesentlich zügigere Tempi, als wir sie von anderen Interpreten gewohnt sind. Auch scheint das Orchester vergleichsweise kleiner besetzt zu sein als bei dem Gros der erhältlichen Einspielungen. Die vokalisierenden Sänger erscheinen eher „schönberghaft“ modern als geisterhaft verschroben, wie es die Briten so gern zu haben scheinen. Das durch Celesta, Flöte und Glockenspiel zum Glitzern gebrachte Eis der Antarktis, wird in Roschdestwenskijs Lesart beinahe zum Tanz mit der Zuckerfee.
Alles in allem scheint dieser Dirigent vor allem die verbreitete Tonmalerei aus Vaughan Williams‘ Sinfonien heraushalten zu wollen, einen absoluten Ansatz zu bevorzugen. Und das ergibt zum Teil ganz erstaunliche Lösungen, die mich persönlich enorm beeindrucken.

Bevor ich abschließend auf die Dritte und die Neunte eingehe, möchte ich an dieser Stelle erwähnt wissen, dass die Soundqualität dieser Aufnahmen, die binnen einer Zeitspanne von nur wenigen Monaten in den Jahren 1988 und 1989 mitgeschnitten wurden, sehr schwankt. Der „Sea Symphony“, der „Pastoral Symphony“ und der „London Symphony“, die man in diesem Set hören kann, hätte ich es auch abgenommen, wenn ich gelesen hätte, sie wären etwa in den 1960er-Jahren mit russischer Röhrentechnik aufgenommen worden. Andere Einspielungen hingegen – so etwa die „Sinfonia Antartica“ oder auch die sechste Sinfonie klingen so digital und modern, wie Liveaufnahmen in den 1980er-Jahren eben so geklungen haben. Teilweise ist eine Anhebung der vermeintlich „leisen“ Instrumente festzustellen, etwa der Harfe oder mancher Perkussionsinstrumente wie etwa die Glockenspiele in der Siebten und der Achten.

Aber zurück zu den Interpretationen. Während bei diesem Boxset das Meiste überzeugt, vielleicht sogar positiv überrascht und neue Wege aufzeigt, gibt es auch Enttäuschungen. Zu diesen gehört etwa die dritte Sinfonie, mit deren vordergründig pastoraler Kulisse der große Gennadij Roschdestwenskij und sein sowjetisches Orchester überhaupt nicht klarzukommen scheinen.

Es zeigt sich einmal mehr, was wir an dieser Sinfonie für ein anspruchsvolles, schwierig zu interpretierendes Werk haben. Diese Sinfonie, die leider die meisten, die sich mit Vaughan Williams‘ Musik beschäftigen zunächst für seine schlechteste Sinfoniekomposition halten (in Wahrheit ist es eine seiner allerbesten!), erweist sich bei den meisten Gesamtaufnahmen der Vaughan Williams-Sinfonien als der Markstein, an dem sich der gesamte Zyklus messen lassen muss. Und dieser russische Zyklus hat leider (wie aber die meisten am Markt verfügbaren Vaughan Williams-Zyklen) eine schlechte Dritte.

Die Neunte hingegen ist wieder sehr interessant, wenngleich Roschdestwenskij hier mit „Tricks“ arbeitet, die mir nicht ganz statthaft dünken. So lässt er etwa an manchen Stellen, an denen man die Besetzungsbesonderheit dieser Sinfonie (nämlich ihre drei Saxophone) hört, das Orchester leiser spielen, als es in der Partitur steht, damit die Saxophone stets als eine Art wiederkehrendes Trio wirken. Das hat der Komponist so zwar nicht in die Noten geschrieben, ergibt aber dennoch einen bemerkenswerten Effekt.

Fazit: Wie soll man diesen verrückten, aus der Zeit gefallenen russischen Vaughan Williams-Zyklus nur auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Ist das überhaupt möglich?
Versuchen wir es so: Wer eine Art „Referenz-Zyklus“ sucht oder sich zum ersten Mal mit den fantastischen Sinfonien des großen britischen Sinfonikers Vaughan Williams beschäftigt, der sollte von dieser Box einfach mal die Finger lassen.
Wer aber glaubt, er hätte alles von Vaughan Williams in jeder Weise schon mal gehört, wird hier an mancher Stelle sein blaues Wunder erleben. Dieser Zyklus ist so eigenwillig wie es überhaupt nur geht. Und Gennadij Roschdestwenskij gelangte in dieser Gesamtaufnahme zu verblüffenden Lösungen für Probleme, die britische oder US-amerikanische Interpreten mit geradezu nichtssagenden Einspielungen wie etwa jenen von Leonard Slatkin, Andrew Davis oder Bryden Thomson nicht einmal wahrgenommen haben, geschweige denn lösen wollten. Roschdestwenskij sind hierdurch einige wirklich große Interpretationen gelungen, während andere an äußeren Umständen (Chor) oder an misslungenen Interpretationsansätzen (Dritte Sinfonie) scheiterten.
Für Vaughan Williams-Fanatiker ist dieser Zyklus auf jeden Fall ein Ohrenöffner wie man ihn nur einmal in Jahrzehnten zu hören bekommt. Ich könnte mich jedenfalls an keine andere Vaughan Williams-Gesamtaufnahme der letzten dreißig Jahre erinnern, die ähnlich provokativ und mit gängigen Konventionen brechend an die Sache herangegangen wäre.
Sicher, es gibt immer interpretatorische „enfants terribles“, wie etwa Douglas Boyd und seine völlig grundlos eigenwillige fünfte Vaughan Williams-Sinfonie aus dem schweizerischen Winterthur, doch dieser Zyklus ist ganz anders. Viel ernsthafter, mit Liebe zum Werk und mit handwerklicher Mühe penibel erarbeitet. Dabei an sich erfrischend unkonventionell. Kurz gesagt: Eine Entdeckung wohl wert!

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