Pietro Locatelli - Concerti Grossi Op. 1Meisterleistung der Historischen Aufführungspraxisvon Rainer Aschemeier • 22. März 2014
Die sogenannte Historische Aufführungspraxis ist schon ein merkwürdiges Ding. Ab Mitte der 1950er-Jahre gab es zunächst wenige, dann immer mehr Orchester, die sich einer Art des Musizierens verschrieben hatten, die sich fast ausschließlich anhand historischer Muster entwickelte: Erstmals musizierte man auf Originalinstrumenten (oder dem, was davon übrig war) aus der Zeit der interpretierten Kompositionen, man studierte alte Bücher zur Spieltechnik der Barockzeit und der Wiener Klassik und zog sogar Gemälde aus früheren Jahrhunderten heran, um die Spieltechnik der Musiker früherer Zeiten möglichst genau nachempfinden zu können. Diese Entwicklung war begleitet von einer im Prinzip schockierenden Kette von Irrwegen und Missverständnissen, sodass einige der frühen Beispiele der „Historischen Aufführungspraxis“ bereits heute als vollständig veraltet gelten dürfen. Genau genommen ist es ein Wunder, dass eine Bewegung, die bis heute postuliert, der interpretatorischen „Wahrheit“ auf der Spur zu sein und dabei dennoch so viele interpretatorische „Unfälle“ auf dem Weg dieser Wahrheitsfindung veranstaltet hat, im Endeffekt trotzdem den Markt klassischer Musik im Sturm erobern konnte und heute das Heft fest in der Hand hält. Wer heute – etwa im Falle einer Vivaldi-Einspielung – zu einer Aufnahme greift, die nicht von einem auf Alte Musik spezialisierten Ensemble mit sogenannten „Originalinstrumenten“ interpretiert wird, wird schon fast schräg angeguckt. Ob das alles sinnvoll ist oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Eine Tatsache ist immerhin, dass die herausragend guten Einspielungen durch den Siegeszug der Historischen Aufführungspraxis weder mehr noch weniger geworden sind. Bis heute muss man wirklich gute Interpretationen dies- und jenseits der „Alte Musik“-Szene leider mit der Lupe suchen. Es ist in beiden Lagern einfach sehr viel Durchschnittsware unterwegs. Wie schön, wenn in so einer Situation ein Rerelease eines wirklich lohnenden Albums erfolgt, das tatsächlich das Zeug dazu hat, als vorbildlich und zeitlos bezeichnet zu werden – egal, welcher „Fraktion“ man selbst angehört. Nun ist Locatelli kein Komponist, dessen Schaffen es qualitativ oder auch nur in Belangen der Zugänglichkeit mit dem von Vivaldi, Tartini oder Corelli aufnehmen könnte. Doch ist sein Werk musikhistorisch durchaus bedeutend und zudem auch einfach sehr schön und schlichtweg interessant zu hören. The Raglan Baroque Players überzeugen bis heute auf dieser Einspielung aus den 1990er-Jahren durch eine höchst musikalische, man möchte sagen geradezu innige Aura, die spüren lässt, wie sehr diese Musik von ihren Interpreten geliebt wird. Übrigens ist nicht nur die Interpretation zeitlos, sondern zudem auch der absolut vorzügliche Sound dieser Scheibe, die alle Tugenden verkörpert, die man dem label hyperion bis heute (nicht immer ganz zurecht) nachsagt. Die Mitte der 1990er-Jahre war in der Tat die absolute Glanzzeit des hyperion-Labels, und das wird hier durch diesen Re-release noch einmal lebendig. Fabelhaft! |
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