M. Tyberg - Sinfonie Nr. 2, Klaviersonate Nr. 2 (2013)
• • • • Marcel Tyberg - Sinfonie Nr. 2, Klaviersonate Nr. 2Musikalisches Mahnmalvon Rainer Aschemeier • 4. August 2013
Wie irre der nationalsozialistische Furor in den 1940er-Jahren wütete, das zeigt kaum eine Geschichte besser, als die des 1893 in Wien geborenen Komponisten und Dirigenten Marcel Tyberg. Tyberg, der ein enger Freund des nach dem Zweiten Weltkrieg zu Weltruhm gelangten Dirigenten Rafael Kubelik war, wurde von den Nazis als „Jude“ angesehen, obwohl die letzte Person jüdischen Glaubens in seiner Familie sein Ururgroßvater gewesen war. Man depotierte den aufstrebenden Komponisten, der sich hauptsächlich mit Tanzmusik über Wasser hielt, aber auch groß angelegte spätromantische und erzkonservative Musik verfasste, die stilistisch eigentlich perfekt zur Nazi-Kulturdoktrin gepasst hätte, ins KZ Auschwitz-Birkenau, wo er Ende 1944 durch die Schergen des Nazi-Regimes ermordet wurde. Seine Kunstmusik überlebte nur durch Zufall. Eine befreundete Familie Marcel Tybergs hatte die Manuskripte und Drucke mit ins Exil in die USA genommen. Dort verschwanden sie zunächst über Jahrzehnte in einem Archiv. Erst Ende der 2000er-Jahre tauchten sie wieder auf und kamen in gute Hände, nämlich in diejenigen der fabelhaften Dirigentin JoAnn Falletta, die Tybergs Musik fortan protegierte und zusammen mit ihrem Buffalo Philharmonic Orchestra die späten Uraufführungen von Tybergs Sinfonien veranlasste. Unter der Ägide von Naxos Tonmann Nr. 1 Tim Handley wurde zunächst die dritte Sinfonie von Falletta und ihrem Orchester aus Buffalo eingespielt und 2010 veröffentlicht. Nun folgt die zweite Sinfonie und erfährt erneut eine hingebungsvolle Aufführung, man möchte sagen: eine herausragende Würdigung durch ein exzellent spielendes Buffalo Philharmonic Orchestra, dem JoAnn Falletta nach Maßgabe der Möglichkeiten ein Höchstmaß an Spielkultur und dynamischer Feingliedrigkeit entlockt. Gleichwohl darf man – trotz der tragischen Geschichte, die mit dieser Musik verknüpft ist – die Frage stellen, ob es Tybergs Werke denn auch auf CD geschafft hätten, wenn ihr Urheber nicht unter so tragischen Umständen umgekommen wäre. Soll heißen: Rechtfertigt die Qualität der Kompositionen an sich ihre Einspielung? Kommen der wuchtige Eröffnungssatz und das quirlige Scherzo der immerhin 1927 entstandenen zweiten Sinfonie doch so bemerkenswert gestrig aus den Boxen, dass man in der Tat sogar geneigt ist, eher in Richtung Vor-Brahms zu denken als in Richtung Nach-Wagner, so könnte man hinter dem unumwunden faszinierenden Adagio – wenn man es nicht besser wüsste – auch eine verschollene Komposition Gustav Mahlers aus dessen „Wunderhorn-Phase“ vermuten. Und das meine ich nicht nur stilistisch, sondern auch qualitativ. Die Sinfonie weiß durchaus zu gefallen. Überzeugend sind vor allem ihre wunderbaren Melodien, die sofort im Ohr hängenbleiben. Das Werk ist heillos anachronistisch, aber ist es nur deswegen auch indiskutabel? Sicher nicht. Die hier zu hörende zweite Sinfonie Marcel Tybergs hat ihre Einspielung wohl verdient. Auf der CD ist außerdem die zweite Klaviersonate Marcel Tybergs aus dem Jahr 1934 vertreten. Sie erklingt hier in einer Einspielung des italienischen Pianisten Fabio Bidini, 2012 mitgeschnitten im Großen Funkstudio des SWR in Stuttgart. Es handelt sich dabei um eine SWR-untypisch klanglich nur bedingt überzeugende Klavieraufnahme, bei der Bidini als Solist großes technisches Können und ein breites Dynamikspektrum unter Beweis stellt. Fazit: Marcel Tybergs Musik ist etwas für Hörer, die keine Berührungsängste mit anachronistischer Spätromantik haben. Sie werden reich belohnt werden. Wer auf dieser CD expressionistische Avantgarde vermutet (...und das CD-Cover suggeriert eine solche Einordnung ja ein bisschen), wird enttäuscht werden. Klanglich ist die CD nicht in vollem Umfang überzeugend. Sie ist aber ein wertvolles musikalisches Denkmal an einen versierten Komponisten, der ermordet wurde im Wahnwitz einer irre geleiteten Ideologie und einer kulturausmerzenden Idiotie erschreckenden Ausmaßes. Diese Musik ist ein Mahnmal. Sie besteht aber auch beim objektiven Blick auf ihre Qualitäten als absolute Kunstmusik. |
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