E. Ysaÿe - Sechs Sonaten Op. 27 (2013)
• • • • Eugène Ysaÿe - Sechs Sonaten Op. 27von Rainer Aschemeier • 29. Juni 2013
Eugène Ysaÿes hoch anspruchvolle Sonaten für Solo-Violine kann man auf CD in der Regel in zweierlei Arten Interpretationen hören. Da gibt es auf der einen Seite die „heißblütigen“ Interpreten, die in den Sonaten vor allem die technische Herausforderung sehen und Ysaÿes Musik mit viel Vibrato und Pathos zum markerschütternden Ereignis machen. Ein bisschen „Zirkusvorstellung“ gehört bei dieser Sorte Interpret immer mit dazu. Nur wenige Interpretinnen und Interpreten haben es geschafft, auf CD einen vollständig überzeugenden, weil ausgewogenen, Zyklus der herrlichen Ysaÿe-Sonaten vorzulegen. Für mein Dafürhalten ist das vor allem der Japanerin Tomoko Kato in den 1990er-Jahren in ihrer Aufnahme für das leider in Würde verstorbene DENON-Label gelungen. Diese Aufnahme ist für meine Ohren die ultimative Referenz und hält sogar den Vergleich mit den „alten Haudegen“ Enescu, Kogan usw. Stand – mühelos! Nun versucht Brilliant Classics‘ derzeitiger Vorzeige-Geigenvirtuose Kristóf Baráti sein Glück mit Ysaÿe. Auf der „Lady Harmsworth“-Stradivari aus dem Jahr 1703 und in sehr gelungener, schön räumlicher aber nicht zu halliger Soundumgebung erweist er sich vor allem als grandioser Techniker. Aber er hat auch künstlerisch etwas zu sagen. Baráti ist keiner von den oben genannten „Zirkusartisten“. Zum Glück entstammt er auch nicht der Esoterikerfraktion. Nichtsdestotrotz ist das, was Baráti hier aufgenommen hat, zum oberen Drittel der verfügbaren Aufnahmen zu zählen. Technisch spielt der Ungar blitzsauber, geradezu faszinierend perfekt. Auch auf tiefer reichender Ebene hat er seine eigene Vorstellung, eine interpretatorische Vision von diesen Stücken. Es bleibt abschließend dennoch die Überlegung nach der Traditionslinie dieser Werke. Inwieweit mag sich Ysaÿe bei seinen sechs Sonaten wohl als Erbe Johann Sebastian Bachs verstanden haben (zumal er ihn an mehreren Stellen in seinen Sonaten ziemlich direkt zitiert)? Käme man da zu der Erkenntnis, dass es eine direkte Verbindung gibt – gewissermaßen „Luftlinie“ Bach-Ysaÿe, müsste das nicht auch Konsequenzen auf die Interpretation haben? Und müsste das nicht bedeuten, dass man in diesen Stücken den Spätromantiker Ysaÿe einmal nicht in die allervorderste Reihe stellt? Fragen, über die sich beim Hören (nicht nur) dieser Einspielung trefflich nachgrübeln lässt. Es gibt wenige Stücke der musikalischen Weltliteratur, bei denen sich ein Interpretationsvergleich mehr auszahlt, als bei Ysaÿes Sonaten. Sie gehören zu den ganz großen Werken der europäischen Musik, und Ysaÿe ist es mit diesen überwältigenden Sonaten zumindest ein Mal in seinem Leben gelungen, in die alleroberste komponistische Königsklasse aufzusteigen. |
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