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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

H. Brian - Sinfonien Nr. 22-24 / English Suite No. 1
New Russia State Symphony Orchestra - A. Walker

(2013)
Naxos

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Havergal Brian - Sinfonien Nr. 22-24 / English Suite No. 1

Neues aus der Feder des exzentrischen Briten

von Rainer Aschemeier  •  30. Mai 2013
Katalog-Nr.: 8.572833 / EAN: 747313283378

Ich gestehe offen und ehrlich: Für mich gibt es kaum etwas Rätselhafteres im Bereich der klassischen Musik, als die Symphonien von Havergal Brian: Nach Außen vermitteln sie häufig den Anschein von Kompositionen eines Dilettanten – dies vor allem, weil sie auf sehr kleinräumiger Ebene extrem „flatterhaft“ erscheinen (dazu später mehr). Bei näherer Betrachtung des Inneren fällt aber auf, dass diese Herangehensweise Methode hat und sehr durchdacht ausgeführt wurde. Ist Brian also doch kein Scharlatan?
Namhafte Komponisten und Kritiker (allen voran Robert Simpson, der selbst zu den umstrittenen Symphonikern des 20. Jahrhunderts zählt) haben sich immer wieder vehement für die Rehabilitierung von Havergal Brians Musik eingesetzt – allem voran natürlich für die der insgesamt 32 Symphonien, die der britische Modernist geschrieben hat.

Sie behaupten, dass wir es in Brian mit einem der größten Symphoniker des 20. Jahrhunderts zu tun hätten, einem der großen Individualisten der Moderne, dessen Stil nur einfach nicht massenkompatibel genug sei, um die Genialität dieser Musik richtig erfassen zu können. Und das steht sinngemäß so sogar in der MGG – also in jener Enzyklopädie, die vor allem für ihre Neutralität gerühmt wird.
Brian macht es seinen Hörern aber auch wahrlich nicht leicht – und das gilt nicht nur für den harmonisch-melodischen Gehalt seiner Musik, der durch die exzessive Verwendung sehr großer Intervallabstände stets wie „zerrissen“ wirkt (Näheres dazu siehe auch hier). Es gilt auch für die „weichen“ Aspekte seiner Musik, wie etwa die Besetzungsgröße des Orchesters. Brian ist, was die Behandlung des Orchesters angeht, eindeutig ein Wagner- und Mahler-Nachfahre. Ihm konnte der Orchesterapparat oft nicht groß genug sein. Seine Symphonien wimmeln nur so von Riesenbesetzungen, exotischem Instrumentarium usw. Seine hier zu hörende Symphonie Nr. 22 etwa verlangt mit einer Spielzeit von gerade einmal 9:22 Minuten nach einem ausgewachsenen, eher noch um einige Positionen verstärkten Sinfonieorchester. Gleiches gilt für die auch nur 13:44 min. respektive 16:29 min. langen Symphonien 23 und 24, die ebenfalls auf dieser CD enthalten sind.

Gleich mit seiner ersten Symphonie, der „Gothic Symphony“ hatte Brian aber den Vogel abgeschossen: Sie gilt laut „Guiness-Buch der Rekorde“nicht nur als die längste je aufgeführte Symphonie. Man staunt des Weiteren über die Besetzung mit 16 Hörnern, 11 Posaunen und 12 Konzerttrompeten sowie nicht weniger als 82 Streichern. Den Rest des Orchesters kann man sich vorstellen…
Kurz und gut: In einer Ära, in der die Reduktion als das musikalische Mittel der Stunde galt, kam hier jemand daher, und führte selbst gigantische Monumentalausmaße wie etwa die der „Symphonie der Tausend“ von Gustav Mahler ad absurdum. Ich denke, das macht Brian bis heute zu einem profunden Unsympathen in den Augen derjenigen, die glauben, eine Deutungshoheit über die Musikmoderne zu haben.

Glücklicherweise ist aber die Zahl der Brian-Gefolgschaft in den letzten Jahren weltweit gestiegen (Ehrlich gesagt ist es mir allerdings ein Rätsel warum, denn die Musik ist und bleibt so sperrig und enigmatisch, dass auch ich kaum weiß, wie ich mich ihr nähern soll – und dass, obwohl ich ein geübter Hörer Neuer Musik bin.). Das macht es Naxos möglich, seinen Brian-Symphoniezyklus weiterzuverfolgen, den das Label – seinerzeit noch unter dem „Marco Polo“-Banner schon in den 1980er-Jahren begonnen und dann in den frühen 2000er-Jahren vorläufig auf Eis gelegt hatte. Mit der nun wieder gestiegenen Nachfrage lohnt sich offenbar die Entdeckung und Neueinspielung weiterer Werke Havergal Brians.

Mit dem New Russia State Symphony Orchestra hat man dafür auf der hier neu erschienenen CD sogar vergleichsweise prominente Partner auftreiben können – handelt es sich doch um das renommierte, seit 2002 von Weltstar Yuri Bashmet geleitete Orchester, das schon so manche erfolgreiche Welttournee bestritten hat und nicht zuletzt auch in Deutschland schon die Konzertsäle landauf landab beackert hat.
Das Niveau dieses Orchesters ist bemerkenswert gut. Es gibt eigentlich keine nennenswerten Schwächen. Natürlich gilt es im Vergleich zu den Top-Orchestern dieser Welt Abstriche in Kauf zu nehmen. Doch im Vergleich mit einigen anderen Aufnahmen in der bisherigen Brian-Serie von Naxos/Marco Polo gehören diese Aufnahmen hier eindeutig zu den bislang besten.

Auch in puncto Dirigent führen die Leute von Naxos ein altbekanntes Muster weiter: Es muss ein Brite sein – selbst wenn das Orchester aus Osteuropa kommt. Mit Alexander Walker hat sich Naxos einen ausgewiesenen Fachmann für britische Musik geangelt. Er hat Brians komplexe und dichte Partituren gut im Griff, weiß vor allem um deren Phrasierungsproblematiken.

Fazit: Für alle, die etwas mit Havergal Brians eigenwilliger Sinfonik anfangen können, ist diese CD eine willkommene Bereicherung der bisherigen Sammlung. Für Neueinsteiger in den merkwürdigen Sound des exzentrischen Briten gibt es womöglich bessere Gelegenheiten – sind die hier enthaltenen Symphonien Nr. 22-24 doch kaum als repräsentativ für den Stil Havergal Brians zu bezeichnen. Orchester und Dirigent machen ihre Sache gut und können nur mit einigem Lob entlassen werden. Klanglich ist die Produktion ebenfalls ordentlich, ohne dass sie sich aber in jene höchsten HiFi-Sphären aufzuschwingen vermag, in denen wir Naxos-Platten in den letzten Jahren immer häufiger begegnen konnten.

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