Gustav Holst - The PlanetsBerliner Philharmoniker - Sir Simon Rattlevon Rainer Aschemeier • 9. Oktober 2006 Sir Simon Rattle hat es derzeit nicht einfach. Als er noch britische Provinzorchester mit Fleiß, Verve und jugendlicher Unbekümmertheit auf Weltniveau hievte, wurde Rattle als einer der vielversprechendsten Dirigenten seiner Generation gefeiert, wurde im Nullkommanichts von der weltweiten Musikkritik zum Star empor geschrieben, die in jeder neuen CD-Einspielung des Symphonieorchesters der miefigen Industriestadt Birmingham plötzlich wahre Wunder hören wollte. 2002 wurde Simon Rattle GMD der Berliner Philharmoniker und hat damit den begehrtesten Chefdirigentenposten auf dem Erdenrund inne. Höher geht es nicht in der Dirigentenzunft (die Herren Philharmoniker aus Wien verzichten bekanntlich nicht nur auf Frauen im Orchester, sondern traditionsgemäß auch auf den Chefdirigenten). Seitdem sieht sich Sir Simon dem geballten Kreuzfeuer der Musikkritiker ausgesetzt: Dem einen sind die Konzertprogramme unter der Ägide des charmanten Briten zu modern, dem nächsten zu konservativ. Der eine behauptet, Rattle habe seinen Elan verloren und dümple in seichten Fahrwassern vor sich hin. Ein Anderer schreibt, Rattle habe die Berliner Tradition auf dem Gewissen, versuche selbst in klassisches Standardrepertoire unangebrachte Radikalitäten hineinzudichten. Der eine lobt Rattles personelles Verjüngungsprogramm, der andere verteufelt es und sieht die Hauptstadt-Philharmoniker nachhaltig in Gefahr. Auch für die jüngste Einspielung der beliebten Orchestersuite „The Planets“ des skandinavischstämmigen Briten Gustav Holst musste Rattle schon viel Schelte einstecken. Irgendwie macht er es derzeit keinem recht. In der Tat: „Mars, the Bringer of War“ kommt zunächst überraschend verhalten aus den Boxen – keine Spur von bedrohlicher Atmosphäre wie sie z. B. Charles Dutoit und das Orchestre Symphonique de Montreal auf DECCA vermitteln. Doch Rattle’s Lesart steigert sich, wechselt von verhaltenem Beginn stufenlos langsam aber scheinbar unaufhaltsam zu dem gewohnt gewalttätigen „Mars“, wirkt auf diese Weise vielleicht sogar eine Spur heimtückischer, der Realität des Krieges nahe kommender, als die von Beginn an radikale Lesart von Dutoit oder Bould. „Venus, the Bringer of Peace“ ist mit 8,59 min. extrem langsam geraten. Der eh schon ruhige Satz wirkt dadurch, sorry, noch einschläfernder als er es ohnehin schon ist. Das gab es vom Philharmonia Orchestra unter Leonard Slatkin auf RCA deutlich überzeugender zu hören. Das anspruchsvolle Stück „Mercury, the Winged Messenger“ habe ich noch nie so sauber gespielt gehört, wie hier von den Berliner Philharmonikern. Man vergleiche hierbei z. B. mit dem schlampig-verwaschenen Versuch des Philharmonia Orchestras unter Slatkin von 1996. Beeindruckend, wie viele Details durch die hoch auflösende Darbietung der Berliner Philharmoniker – und dem nicht minder hoch auflösenden Klang der EMI – hörbar werden, und das bei einer Live-Aufnahme – Respekt! „Jupiter, the Bringer of Jollity“ ist bekanntlich fester Bestandteil des „Last Night of the Proms“-Programms. Viele Pappnase und Union-Jack schwingende Briten werden von Rattles Jupiter enttäuscht sein: Der sonst so heroisch-patriotische Jupiter muss diesmal Federn lassen, wird entzaubert und von dem sonst üblichen Pathos befreit. Übrig bleibt der kompositorisch vielleicht sogar am wenigsten überzeugende Beitrag zu Holsts Planeten-Suite. Aber auch das leicht fransig wirkende Spiel der Berliner Streichersektion gibt zu Begeisterung leider kaum Anlass. Der folgende „Saturn, the Bringer of Old Age“ ist das sensationelle Highlight der Aufnahme: Die mystische Grundstimmung des Stücks ist selten so überzeugend eingefangen worden. Darüber hinaus macht das Berliner Orchester gerade zum Schluss des Satzes ganz feine, flirrende Tonnuancen hörbar, die ich persönlich in dieser Form noch nie vorher gehört habe, weder bei Dutoit, noch bei Bould oder Slatkin. „Uranus, the Magician“ zieht wie eigentlich in jeder CD-Aufnahme der „Planeten“ relativ spurlos vorüber – einer der schwächeren Sätze der symphonischen Suite. Dafür hinterlässt „Neptune, the Mystic“ einen umso intensiveren Eindruck: Sowohl was die Interpretation als auch die von der EMI hervorragend eingefangene Akustik angeht, ist dies ein echter Referenz-Neptun mit Gänsehautgarantie. Obwohl Holsts Suite damit eigentlich beendet wäre, kommt als besonderes Bonbon der CD noch der von Colin Matthews in den 1990ern nachkomponierte „Pluto, the Renewer“ hinzu. Zwar funktioniert das Stück im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Neptun stilistisch recht gut, fällt jedoch kompositorisch im Gegensatz zur ebenfalls nicht unbedingt als durchgängiges Meisterwerk einzustufenden Suite in geradezu kosmische Tiefen ab – Effektmusik, mehr gibt es von Matthews leider nicht. Was solls: Die astronomische Wissenschaft hat Pluto bekanntlich vor Kurzem seinen Planetenstatus offiziell wieder aberkannt, daher: CD-Player einfach ohne Pluto programmieren. Für die konzertanten Aufführungen der Planets-Suite – von den Berliner Philharmonikern clever als „ad astra project“ vermarktet – hatte sich Simon Rattle dann offenbar überlegt, wenn Colin Matthews schon Pluto vertont hat, könnte man noch ein paar Asteroiden mit auf die Waagschale legen. Sprachs, und vergab Kompositionsaufträge an die namhaften Gegenwartskünstler(innen) Kaija Saariaho, Matthias Pintscher, Brett Dean und – als wohl bekanntestem Vertreter in der Vierer-Riege – Mark-Anthony Turnage. Die Ergebnisse der Asteroiden-Vertonungen sind sehr unterschiedlich ausgefallen – sowohl qualitativ als auch idiomatisch. Spontan weiß Kaija Saariaho mit ihrem Beitrag „Asteroid 4179: Toutatis“ wohl am Ehesten zu überzeugen. „Toutatis“ ist ein physikalisch chaotischer Asteroid, dessen Nordpol nahezu stündlich wechselt, der sich an verschiedenen Enden seiner Oberfläche unterschiedlich schnell dreht und der somit ständig seine Form ändert. Saariaho wusste diese interessanten Features dankbar zu nutzen und in eine eher moderat moderne musikalische Form zu gießen. Den folgenden drei Beiträgen, auch dem von Turnage, scheint eine gewisse kompositorische Lustlosigkeit anzuhaften, was sich für den Hörer leider in mal mehr, mal weniger Langeweile äußert. Ein CD-Rom-Teil mit zehnminütigem „Making Of“, inkl. Interviews mit Sir Simon Rattle und den Komponisten der Asteroiden, rundet die Doppel-CD-Veröffentlichung ab. Fazit: Rattles Interpretation sowie Holsts Komposition sind beide qualitativ ambivalent. Rattle steckt bei einem Gutteil der Sätze selbst anerkannte Referenzaufnahmen wie die von Dutoit und Bould glatt in den Sack. Andererseits überraschen offensichtliche Unzulänglichkeiten des renommierten Berliner Orchesters bei „Venus“ und „Jupiter“. Die Asteroiden und der nachkomponierte „Pluto“ sind nett für Neugierige und Entdecker, jedoch für zukünftige CD-Projekte verzichtbar. Unter den derzeit etwa 50 verfügbaren „The Planets“-Einspielungen am Markt werden sich sicherlich konsistentere finden lassen als die hier besprochene. Die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle werden mit der vorgelegten CD aber in jedem Fall zur Spitzengruppe der Anbieter gehören. Zusätzliche Pluspunkte, die für die Anschaffung der neuen Einspielung sprechen, sind der sehr gute Klang der Aufnahme und der relativ günstige Anschaffungspreis (Eine Doppel-CD zum Preis von einer Einzel-CD). Wer eine bessere Aufnahme haben möchte – und dabei auf Pluto oder die Asteroiden verzichten kann –, sollte sich die Aufnahme des Orchestre Symphonique de Montreal unter Charles Dutoit (DECCA) oder die ausnehmend gute Interpretation des Royal Scottish National Orchestra unter David Lloyd-Jones (Naxos) beschaffen. |
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