Otto Klemperer Edition - 20th Century Music (2013)
• • • • Otto Klemperer Edition - 20th Century MusicKlemperer - der Modernist!?von Rainer Aschemeier • 10. Mai 2013
Im Juni jährt sich Otto Klemperers Todestag zum vierzigsten Mal. Grund genug, um die EMI in Sorge zu versetzen, man könnte ein wichtiges Jubiläum marketingtechnisch verpassen. Und so ist heutzutage schon ein vierzigjähriger Todestag ausreichend, um die Plattenfirma mit einer großen Jubiläumsedition aus der Reserve zu locken. Für die Klemperer-Fans ist das so oder so sehr angenehm: Gleich sechs CD-Boxen bringt die EMI zum Klemperer-Jubiläum an den Start, darunter die „üblichen Verdächtigen“, wie etwa eine Box mit Mahler-Sinfonien oder eine mit romantischen Sinfonien und Ouvertüren. Doch es gibt auch selten Gehörtes in der Edition und solche Interpretationen, die zum Teil schon längere Zeit vergriffen gewesen sind. Unter diesen Boxen ragt eine besonders hervor. Mit der Box „20th Century Music – Hindemith, Klemperer, Stravinsky, Weill“ stellt EMI Classics Otto Klemperer nicht nur als Dirigenten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern mit einer vollen CD auch als Komponisten. Doch fangen wir mal vorn an: Heute weiß ja kaum noch jemand, dass Otto Klemperer als einstiger Musikdirektor der Berliner Kroll-Oper einer der wichtigsten Förderer der damaligen „Neuen Musik“ war. Besonders zu Igor Strawinskys Werk pflegte er eine große Zuneigung. Mit dem Komponisten verband ihn ein persönlicher Austausch, wenn auch nicht gerade auf freundschaftlicher, so doch auf solider, kollegialer Ebene. Strawinsky im Gegenzug ließ Klemperer als einen von nur wenigen Dirigenten weitestgehend in Ruhe, was die gefürchteten Spitzzüngigkeiten anging, mit denen er sonst auf Interpretationen seiner Werke aus der Hand anderer Dirigenten reagierte (wir erinnern uns etwa an das Strawinsky-Zitat: „Der Sacre des Herrn von Karajan ist nicht mein Sacre.“). Klemperer kann man auch auf der ersten CD dieser Box als Strawinsky-Dirigenten erleben, und zwar mit der „Pulcinella“-Suite und der „Sinfonie in drei Sätzen“. Beide Stücke sind hier in hoch beeindruckenden Interpretationen zu hören. Meines Erachtens bilden sie das Highlight der gesamten Box. Die „Pulcinella“-Suite behandelt Klemperer extrem kammermusikalisch. Immer wieder stellt er einzelne Stimmen in den Vordergrund, und das auf so kunstfertige wie radikale Art und Weise. Bei ihm sind die Solostimmen so präsent, als wären sie Solostimmen in einem Konzert, er „schält“ sie nachgerade aus ihrer orchestralen Umgebung heraus. Diese erhält im Gegenzug einen zweitrangigen Status, funktioniert praktisch nur als begleitendes Element. Ob sich das Strawinsky wirklich so gedacht hat, darf man getrost in Frage stellen. Fakt ist jedenfalls, dass Klemperer diese Vorgehensweise, die er absolut kompromisslos durchzieht, offenbar genauestens ausgetüftelt hat. Hier hört man Musik, die wie in einer Bildergalerie „ausgestellt“ wird. Klemperer vermittelt mit seinem Ansatz eine Feeling von: „Hört jetzt mal hierhin, und nun dorthin!“ Das ist sehr spannend und oft genug auch einfach verblüffend. Es geht weiter mit der „Sinfonie in drei Sätzen“. Auch hier setzt sich der Individualismus des Dirigenten durch. Wieder in eher gemächlichem Tempo wird das Stück von Klemperer tüchtig gegen den Strich gebürstet. Das CD-Booklet spricht von einer „störrischen“ Interpretation, und dem kann ich nur beipflichten. Während Klemperers Strawinsky eine gewisse „Steifheit“ kaum verleugnen kann, ist sein Weill das genaue Gegenteil: Leicht wie eine Mozart-Serenade klingt die „Kleine Dreigroschenmusik“ zuweilen unter Klemperers Taktstock. Hier ist auch die Orchesterbehandlung ganz anders: Hier funktioniert das Philharmonia Orchestra als echtes Ensemble, das hin und wieder nahe an ein schmissiges Big-Band-Feeling heranrückt. Gerade diese Hervorstellung der Jazzelemente in Weills Musik ist etwas, was man so von Klemperer kaum erwartet hätte. Auf CD2 hören wir den Komponisten Klemperer. Hier dirigiert Klemperer seine eigene zweite Symphonie in einer klanglich fabelhaften Aufnahme aus dem Jahr 1969 – wie man überhaupt sagen muss, dass bis auf eine Ausnahme alle Einspielungen dieser Box extrem gut klingen. Der Name der Produzenten Walter Legge und Douglas Larter, die den überwiegenden Teil dieser Aufnahmen verantwortet haben, sind nicht ohne Grund in die Annalen der Tonträgergeschichte eingegangen. Die meisten dieser Aufnahmen aus den 1950er- bis 1960er-Jahren haben mehr Dynamik, Transparenz und Charakter als das Meiste, was EMI in den 1970er, 80er- und 90er-Jahren produziert hat. Glücklicherweise ist die britische Firma ja seit Anfang des neuen Jahrtausends auch wieder etwas stärker in HiFi-Sphären unterwegs. Aber zur Musik: Bekanntlich war und ist Klemperer als Komponist gelinde gesagt umstritten. Die meisten waren und sind sich einig: Klemperer war als Komponist kein großes Licht. Es geht weiter mit CD3 und einer Mono-Aufnahme von Hindemiths „Nobilissima Visione“. Es ist dies das Stück, bei dem Klemperers Interpretation am gesichtslosesten bleibt. Das mag sicher auch am relativ flach klingenden Mono-Sound liegen, der räumliche Tiefe bei dieser Aufnahme eher vermissen lässt. Aber es ist wohl auch das Dirigat selbst, das diesen Effekt mit verursacht. Klemperers Hindemith ist quasi das Gegenteil von seinem Strawinsky. Während er dort die Einzelstimmen hyperprominent herausseziert, gehen sie beim Hindemith-Stück ziemlich unter. Definitiv kein Glanzpunkt in der Klemperer-Diskographie! Fazit: Die Box, die den „Modernisten“ Klemperer präsentieren soll (so steht es im Booklet) schafft dies nur teilweise. Sie erzählt uns jedoch durch die faszinierenden Interpretationen, die sie enthält, mehr über das Musikverständnis dieses großen Künstlers, als es zum Beispiel seine Beethoven-Einspielungen tun oder seine Bruckner- und Mahler-Aufnahmen. Lediglich bei seinen Strauss-Aufnahmen ging Klemperer – ähnlich wie hier bei seinen Strawinsky-Deutungen – an die Grenzen dessen, was die Musik aushält. Klemperer war immer dann am besten, wenn er ein Stück zur Zerreißprobe freigab. Wohlgemerkt: Die Zerreißprobe fand schon vor der Aufnahme statt. Klemperer hatte alles akribisch vorbereitet. Das Endergebnis, das wir hören, ist lediglich Ausdruck dessen, was Klemperer im Vorfeld über das Stück herausgefunden hatte. Einiges von der Musik, die er im Belastungstest für so gut befunden hat, dass er sie anschließend in teils wirklich extremen Lesarten dirigiert hat, ist auf dieser Box vertreten. Und das ist wirklich höchst faszinierend. Es ist weiterhin frappierend, wie hervorragend diese alten Aufnahmen überwiegend klingen. Sie können auch heutigen HiFi-Standards meistens mühelos genügen. |
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