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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

F. Liszt - Symphonische Dichtungen (GA)
Orchester Wiener Akademie - Martin Haselböck

(2013)
NCA / Vertrieb: membran

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Franz Liszt - Symphonische Dichtungen (Gesamtaufnahme) (5 CDs)

Epochemachende Edition - endlich komplett erhältlich

von Rainer Aschemeier  •  27. März 2013
Katalog-Nr.: 60250 / EAN: 885150602508

Muss diese Rezension noch geschrieben werden? Liszt-Kenner wissen längst: Diese Aufnahmen hier haben trotz ihrer noch jungen Vergangenheit bereits jetzt schon Geschichte geschrieben. Als Dirigent Martin Haselböck mit seinem Orchester Wiener Akademie im Oktober 2010 die Aufnahmesitzungen zu einem Zyklus von Liszts symphonischen Dichtungen begann, war klar: Hier entsteht etwas Epochemachendes.

Nun ist dieses „epochemachend“ oft missverstanden worden. Einfach deswegen, weil jeder mit diesem Begriff gleichsetzt, dass etwas, das epochemachend ist, auch gar nicht mehr besser gemacht werden kann. „Gut“ ist aber nicht gleich „epochemachend“.

Das wahrlich umstürzlerische an Haselböcks Liszt-Deutung ist, dass er sich als erster Gedanken darüber gemacht hat, wie das typische Liszt-Orchester zur Entstehungszeit der symphonischen Dichtungen ausgesehen haben könnte. Er studierte alte Besetzungslisten des Weimarer Orchesters, das Liszt einst leitete. Er fahndete sogar nach den originalen Instrumenten jenes Orchesters und stellte fest, dass diese bauartlich zum Teil sonderbare Abweichungen aufwiesen, die man weder bei heutigen noch bei historischen Instrumenten sonst noch einmal findet.

Haselböcks „Studienergebnis“: Liszts Weimarer Orchester war deutlich kleiner besetzt, als ein heutiges Symphonieorchester. Es umfasste nur 39 Personen und wurde nur gelegentlich einmal auf mehr als 40 oder 50 Spieler verstärkt, wozu man sich „leihweise“ Musiker aus anderen Ensembles kommen ließ.
Der österreichische Dirigent überlegte: Könnte man das heute noch so aufführen? Mit nur 39 Leuten, vielleicht hier und da ein paar mehr?

Kurzerhand entschied er sich, es einfach mal zu versuchen. Das Ergebnis war verblüffend: Liszts häufig als „schwer“ und „träge“ geschmähte Sinfonik war plötzlich arkadisch und leicht, trug sogar klassische Züge. Plötzlich war die im realen Leben existierende persönliche Verbindung zwischen Schiller und Liszt nicht mehr so abwegig. Ein wenig von der luziden Klassik Schillers steckte nun nämlich auch in der Musik von Liszt.
Haselböck wies außerdem nach, dass Liszt größeren Einfluss auf die Orchestrierung seiner Werke hatte, als man lange annahm. Selbst unter Kennern war die Meinung verbreitet, dass Liszt die symphonischen Dichtungen im Wesentlichen als Klavierstücke entworfen hatte und sie dann nur unter Beihilfe seiner sinfonisch äußerst fitten Schüler, wie etwa Joseph Joachim Raff, orchestrieren konnte.
Das Orchester Wiener Akademie bewies zudem, wie farbig Liszts Orchester geklungen haben muss und wie entstellend sich heutige Symphonieorchester mit ihren Streicher- und Blechlawinen auf Liszts Sinfonik auswirken.

All das also waren echte Ohrenöffner, und, ja, sie waren sicherlich epochemachend. Haselböcks Liszt war und ist mindestens so revolutioär wie einst Marriners Vivaldi oder Harnoncourts Haydn.

Doch zeigt die vorliegende 5 CD-Box auch, dass Haselböck und seine Wiener von der Ausführung her dramatischen Qualitätsschwankungen unterlagen. Gäbe es nur die erste CD mit der phänomenalen, leuchtend hellen, extrem exakten und kraftstrotzenden Einspielung der Dante-Symphonie (in dieser Sammlung CD1 der Box), wäre alles in Ordnung: Das ist ein Liszt, wie man ihn sich besser nicht vorstellen kann.
Doch schon bei der zweiten CD mit „Les Préludes“, „Orpheus“ und der Berg-Sinfonie sind qualitative Einbußen unüberhörbar. Die Streicher sind plötzlich nicht mehr exakt und punktgenau, das Blech kiekst hier und da auch mal, selbst der Aufnahmesound ist schlechter als bei der auch klanglich (leider) einmaligen Debüt-CD.

Und so zieht es sich durch das gesamte Set: Haselböck und seine Wiener kennen kein Mittelmaß. Entweder sie sind Liszt’sche Himmelsstürmer und offerieren uns Aufnahmen, die auch in Jahzehnten noch schwerlich überbietbar sein dürften (Dante-Symphonie, „Hungaria“, „Festklänge“) oder sie servieren lauwarme Kost mit reichlich Defiziten („Les Préludes“, „Orpheus“, „Mazeppa“).

Woran das liegt? Sorry, da bin ich überfragt.

Alles in allem ist diese Liszt-Edition natürlich trotzdem ein „must have“ für jeden Liszt-Anhänger. Nicht nur gibt es kaum Alternativen zu dieser Gesamteinspielung (mir wäre lediglich die qualitativ auch nicht in jeder Hinsicht empfehlenswerte Gesamtaufnahme Arpad Joos auf Hungaroton bekannt), sondern es ist einfach auch so, dass man an diesen Haselböck-Deutungen gar nicht vorbei kommt. Zu prägend und entlarvend sind auch die mittelmäßigen Werkwiedergaben in dieser Edition. Zu wichtig sind sie für die künftige Sichtweise auf Liszts orchestrales Schaffen. Diese Box gehört deshalb trotz mancher Qualitätsproblemchen in jede ernstzunehmende Sammlung neudeutscher Romantik.

Und ewige Liszt-Nörgler sollten sie sich auch einmal anhören. Hier zeigt sich, dass Liszt weder ein naiver noch ein schlechter Komponist gewesen ist. Liszt erweist sich hier stellenweise gar als Wegbereiter einer Moderne, die erst viele Jahre später im deutschen Expressionismus gipfeln sollte. Betrachtet man etwa die Sinfonien Ernst Kreneks liegt der Weg zu vielem, was Liszt in seinem Werk vorgezeichnet hat, offen vor einem. Man muss ihn nur sehen beziehungsweise hören.

Es gilt immer noch, Liszt ganz neu zu entdecken. Marin Haselböck und das Orchester Wiener Akademie haben mit dieser Edition eine der wichtigsten Voraussetzungen dazu geschaffen.

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