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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Les Ballets Russes, Vol. 9
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern - R. Reimer

(2013)
hässler classics / Vertrieb: Naxos

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Les Ballets Russes, Vol. 9

Die bislang womöglich spannendste Folge in der löblichen hänssler-Reihe mit Ballettmusik der legendären Tanztruppe um Sergej Diaghilew

von Rainer Aschemeier  •  1. März 2013
Katalog-Nr.: 93.296 / EAN: 4010276025689

Bei hänssler Classics liegt nunmehr bereits die neunte Folge aus der schönen und sehr interessanten Reihe mit Musik der „Ballets Russes“ vor, also jener Truppe, die unter Leitung des legendären Impresarios Sergej Diaghilew zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Bühnen von Paris mit ihrer Kunst fest im Griff hatte.
Neben hinlänglich bekannten Ballettmusiken, wie etwa den Strawinsky-Klassikern „L’oiseau de feu“, „Petruschka“, „Pulcinella“, „Le Sacre du printemps“, „Apollon Musagete“ oder Francis Poulens „Les Biches“, kamen im Rahmen der „Ballets Russes“ auch solche Werke zur Aufführung bzw. Uraufführung, die heute weit weniger Hörer kennen. Stücke von Komponisten wie etwa Liadow, Rimsky-Korsakoff oder Dukas waren das zum Beispiel – und auch die auf dieser neuen CD enthaltenen Werke „Le train bleu“ von Darius Milhaud, „Les femmes de bonne humeur“ von Vincenzo Tommasini (nach Musik von Domenico Scarlatti) sowie „La chatte“ von Henri Sauguet.

Ich gestehe gern, dass ich vor dem Hören dieser CD alle drei Stücke nicht kannte. Und nach meinen Recherchen ist der hier bei hänssler veröffentliche Silberling auch für alle drei Stücke die derzeit einzige erhältliche Einspielung.

Unter den Blinden ist der Einäugige König, und so beginnt diese CD mit dem Stück, das man (in Anbetracht dessen, dass alle Werke auf diesem Album hochgradige Raritäten sind) noch halbwegs als das „bekannteste“ einstufen kann: „Le train bleu“ aus der Feder von Darius Milhaud. Es bietet unerwarteterweise ziemlich konservative Musik, bei der ich auch keineswegs überrascht gewesen wäre, wenn mir jemand erzählt hätte, sie würde zum Beispiel von Camille Saint-Saëns oder Théodore Dubois stammen. Tut sie aber nicht – und das ist schon recht erstaunlich. Mir persönlich ist kein anderes Stück von Darius Milhaud bekannt, dass derart konservativ und spätromantisch gestrickt ist. Sicher: Auch hier lugt die für Milhaud typische Nähe zur Unterhaltungsmusik jener Zeit durch manche Ritze (wenngleich sie eher in Richtung Operette und Salon lugt und weniger in Richtung Chanson- oder Jazzbar), und auch eine gewisse Nähe zum Neoklassizismus ist erkennbar. Insgesamt betrachtet dürfte „Le train bleu“ aber zu den ungewöhnlich „braven“ Stücken des sonst durchaus um keine musikalische Provokation verlegenen Darius Milhaud zählen.

Es folgt das aus meiner Sicht reizvollste Stück des Albums, nämlich das aus Musik von Scarlatti zusammengestellte (und natürlich im Sinne des Neoklassizismus üppig überarbeitete) „Les femmes de bonne humeur“ von Vincenzo Tommasini. Tommasini ist noch einer aus dieser 1880er-Generation, der auch Respighi, Malipiero, Pizzetti und Casella angehörten, und die heute kaum noch jemand genügend wertschätzt. Umso erfreulicher ist es, dass wir hier das Stück endlich auf CD hören können, das als der direkte Vorläufer zu Strawinskys Meisterwerk „Pulcinella“ betrachtet werden kann.
Diaghilew hatte mit Tommasinis „Les femmes de bonne humeur“, bei dem der Komponist im Prinzip vor allem hübsch anzuhörende Musik aus Scarlatti-Stücken für modernes Orchester gesetzt und in loser Reihenfolge zusammengestellt hatte, gute Erfahrungen gemacht. Die Musik kam beim damaligen Publikum offenbar einfach gut an.
Deswegen bat der schwergewichtige Impresario Diaghilew den Komponisten Igor Strawinsky drei Jahre nach Tommasinis hier zu hörendem Stück um etwas ganz Ähnliches. Doch Strawinsky hatte ganz und gar keine Lust, einfach nur barockes Material zu kompilieren, wie das Tommasini gemacht hatte. Er legte das wild-verrückte „Pulcinella“ vor, mit dem er Diaghilew vor den Kopf stieß.
Tommasinis Tanzsuite aus Scarlatti-Material muss daher zwangsläufig aus heutiger Sicht verhältnismäßig „brav“ wirken – obwohl wir hier einen durchaus mutigen, frühen Vorstoß in die spätere Modeströmung des Neoklassizismus vorfinden. Die Scarlatti-Bearbeitungen sind auch nicht so oberflächlich, wie uns das Booklet glauben machen will: Tommasini nutzt hier durchaus alle Mittel eines modernen Orchesters und vereinnahmt Scarlattis Musik damit in nicht unbeträchtlichem Maße.
Ich – als großer „Pulcinella“-Fan – finde Tommasinis Stück jedenfalls allein schon wegen dieser Vergleichsmöglichkeit unheimlich spannend und bin froh, dass wir diesen „missing link“ des Neoklassizismus nun endlich auf CD hören können.

Mit Henri Sauguets „La chatte“ liegt abschließend noch ein eher konventionelles, romantisches Stück vor, das eher in der Reihe der traditionellen Ballettmusiken des 19. Jahrhunderts zu stehen scheint. Hört man aber genauer hin, ist die Orchestrierung des musikalischen Materials auch hier nicht frei von Einflüssen aus Chanson und Salonmusik. Insofern ist auch dieses Stück von einigem musikhistorischen Interesse – auch wenn es kompositorisch einfach nicht in derselben Liga zu spielen vermag, wie das Stück aus der Feder Milhauds. Auch ist es nicht so entzückend, wie das Tommasini-/Scarlatti-Ballett.

Alles in allem liegt mit dieser CD jedoch die sicherlich bislang spannendste Folge der „Ballets Russes“-Reihe von hänssler classics vor. Und sie ist – wie schon ihre Vorgängerveröffentlichungen innerhalb der Serie – sehr gut eingespielt. Die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern (wir erinnern uns: Das Orchester, das keine Bindestriche zu kennen scheint) liefert unter der Leitung des Gastdirigenten Robert Reimer eine hervorragende Einspielung ab.
Reimer gewinnt den so selten aufgeführten Stücken viel Esprit ab und stellt sie in sehr schlüssig ausbalancierten Interpretationen vor. Das Orchester spielt die Musik derweil, als würde es sie schon seit Jahren regelmäßig auf dem Spielplan haben. Da kann man nur den Hut ziehen: Vergleichbare Ausflüge in das musikalische Raritätenkabinett hat man ja auch von versierten Orchestern gelegentlich schon weit weniger überzeugend gehört.

Da bei dieser hänssler-Aufnahme auch der Klang stimmt, kann man diese CD vorbehaltlos empfehlen. Zwar sind die hier enthaltenen Stücke kompositorisch nicht allererste Sahne, aber sie stellen einen sehr kurzweiligen und hoch interessanten Einblick in die Musikgeschichte dar, den insbesondere am Neoklassizismus interessierte Hörer keinesfalls versäumen sollten.

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