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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

J. Brahms - Sinfonie Nr. 1 / "Liebeslieder-Walzer" / "Ungarische Tänze" Nr. 1, 3 & 10
Swedish Chamber Orchestra - Th. Dausgaard

(2013)
BIS / Vertrieb: Klassik Center Kassel

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Johannes Brahms - Sinfonie Nr. 1 / "Liebeslieder-Walzer" / "Ungarische Tänze" Nr. 1, 3 & 10

Wohl mehr Dausgaard als Brahms

von Rainer Aschemeier  •  29. Januar 2013
Katalog-Nr.: BIS-1756 / EAN: 7318599917566

War es vor einigen Jahren noch usus, Beethoven in besonders umstürzlerischen Interpretationen darzubieten, beobachtet man etwas ganz Ähnliches in letzter Zeit häufig bei Neuaufnahmen von Brahms-Sinfonien.

Eine der neuesten Aufnahmen der berühmten Brahms-Ersten ist soeben bei BIS erschienen und stammt von dem ganz zurecht viel gelobten und preisgekrönten dänischen Dirigenten Thomas Dausgaard und seinem Schwedischen Kammerorchester.
Die Ankündigung, dass hier Brahms von einem Kammerorchester musiziert wird, sollte einen zunächst erst einmal nicht abschrecken. Erstens profitiert Brahms‘ Musik sehr von einer moderaten Besetzungsgröße (Johannes Brahms selbst sah sich ja in der Tradition Beethovens, was allein schon ausreicht, um eine reduzierte Besetzungsgröße des Orchesters zu rechtfertigen).

Zweitens hat es Dausgaard auch schon – und das übrigens zum Teil sehr überzeugend – fertig gebracht, seine Schweden selbst große Bruckner-Sinfonien aufführen zu lassen; und Schubert und Schumann hat man vom Swedish Chamber Orchestra auch schon in geschmackvollen Darbietungen gehört.

Nun also Brahms‘ Erste – und die eröffnet Dausgaard gleich mit einem wahren „Schockeffekt“: Legato, Legato, Legato. Noch krasser als einst beim seligen Karajan erklingt hier der Beginn des ersten Satzes in einer einzigen, unaufhörlich aneinandergereihten Perlenschnur von Noten. Schon in den Takten 5 und 6 treibt es Dausgaard auf die Spitze, indem das Dauerlegato beinahe zum Glissando wird!
Schreck lass nach! Die Partitur her!

„Wo nimmt Dausgaard nur all dieses Legato her?“, fragt man sich beim Blick in die Noten. Sicher, die ersten Takte wimmeln nur so vor Phrasierungs- und Legatobogen. Aber sie sind auch sehr gezielt eingesetzt, stehen eben nicht über allen Noten.
Aber es gibt ja auch noch die von Brahms ganz an den Anfang gesetzte Vortragsanweisung „espressivo, e legato“. Sie gilt für das gesamte Eröffnungsthema. Aber kann man aus ihr ein derart extremes Dauerlegato ableiten, wie Dausgaard es hier vorstellt? Sicher nicht! Die Vortragsanweisung sollte sicherlich eher so verstanden werden, dass Brahms sein tatsächlich notiertes Legato mit diesem Hinweis gewissermaßen noch einmal „unterstreicht“.

Diese bemerkenswerte Übersteigerung des Sinfoniebeginns wird in der folgenden Einspielung leider zur allseits gängigen Praxis.
Das wäre eigentlich nicht weiter schlimm und kann ja als Dausgaards individuelle Interpretationsauffassung verstanden werden, die sich allerdings interpretationsgeschichtlich eher deutlich rückwärts- als vorwärtsgewandt präsentiert und mehr als einmal Anleihen bei Karajan und co. nimmt. Ist das etwa wieder zeitgemäß? Es scheint fast so zu sein…
Das eigentliche Problem bei der Sache ist, dass Dausgaards Orchester die „Politik“ seines Dirigenten zum Teil nur mit großen Problemen umsetzen kann. Es ist – um es einmal ganz böse zu formulieren – vor allem in den Streichern qualitativ oft gar nicht in der Lage, Dausgaards Dauerlegato auch zu exekutieren – und dann gerät eben Manches zum vielleicht auch unfreiwilligen Glissando.

Die Aufnahme hat aber auch ihre Höhepunkte, so zum Beispiel die vorbildliche, kleinräumig eng ausdifferenzierte Dynamikbehandlung, die vor allem dem zweiten Satz der Sinfonie zugute kommt. Den dritten Satz nimmt Dausgaard langsamer als viele seiner Kollegen und kommt damit meines Erachtens Brahms‘ Tempoanweisung „un poco allegretto“ überzeugend nahe.

Im vierten Satz herrscht wieder der Individualismus vor, beispielsweise dann, wenn Dausgaard in Brahms‘ „fünfeinhalb“-taktiger Pause ab Takt 6 sage und schreibe 17 Sekunden (!) verstreichen lässt, was zu dem bemerkenswertesten „Loch“ im Beginn des vierten Satzes von Brahms‘ Erster führt, den ich bislang auf Tonträger erlebt habe.
Wie kommt es dazu?
Es ist die logische Konsequenz des extrem langsamen Tempos, das Dausgaard zumindest zu Beginn des vierten Satzes anschlägt. Zwar wird der Rest des Satzes nach der langen Einleitung deutlich beschwingter dargeboten, bewegt sich aber auch dann noch durchgängig eher im „midtempo“-Bereich des am Schallplattenmarkt Verfügbaren. Und da schauen wir auch hier noch einmal in die Noten: „Allegro non troppo“ schreibt Brahms hier vor, also nicht gar zu sehr Allegro. Warum Dausgaard dann aber beinahe noch etwas langsamer unterwegs ist, als im „un poco Allegretto“ des dritten Satzes, ist mir nicht verständlich.

Als willkommene Zugaben zu der – wie ich beschrieben hatte – in meinen Augen eher problematischen Wiedergabe der ersten Sinfonie, fungieren die eher selten zu hörenden Brahms-Orchestrierungen der ursprünglich für Klavier verfassten „Liebeslieder-Walzer“ sowie die natürlich allseits bekannten Orchestrierungen der „Ungarischen Tänze“. Bei Letzteren haben Dausgaard und seine Schweden lediglich die Nummern 1, 3 und 10 aufgenommen, da sie die einzigen aus dem Werkzyklus sind, die Brahms selbst orchestriert hat. Das ist natürlich schade, denn das beim Publikum weitaus bekannteste Werk des Zyklus (die Nummer 5) ist damit nicht Bestandteil der Aufnahme.

Als Fazit möchte ich für mich persönlich ziehen, dass diese SACD eine der wohl strittigsten neuen Interpretationen der ersten Sinfonie von Johannes Brahms enthält, die mit vielen gängigen Praktiken bricht und Altes, überkommen Geglaubtes scheinbar für neu verkaufen will. Es wird zweifellos Menschen geben, die Brahms schon immer einmal genau so hören wollten, wie Dausgaard ihn hier gibt. Ich muss gestehen: Ich selbst gehöre nicht dazu, zumal ich Vieles von Dausgaards Interpretationsansatz in den Noten des Komponisten nicht wiederfinde.

Klanglich ist diese neue BIS-CD allerdings erneut von geradezu erhabener Qualität. So schön unaufdringlich natürlich und luzide können Orchesteraufnahmen klingen – es ist eine Freude! Aber leider macht der phänomenale Sound in diesem besonderen Fall auch die Schwächen des schwedischen Orchesters hörbar, und die stecken hier in einer für Brahms‘ Musik besonders wichtigen Orchestersektion, nämlich in den Streichern.

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