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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Mendelssohn Bartholdy
Academy of St. Martin-in-the-Fields - N. Marriner; M. Stadtfeld (Klavier)

(2012)
Sony Classics

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Felix Mendelssohn Bartholdy - Klavierkonzert Nr. 1 op. 25, Variations sérieuses op. 54, Lieder ohne Worte

Now and Then - wie schlägt sich die neue Stadtfeld-Einspielung im Vergleich zur '74er-Perahia-Referenz?

von Rainer Aschemeier  •  14. November 2012
Katalog-Nr.: 88725476692 / EAN: 887254766926

Es gab Zeiten, in denen war Manches einfacher. Ging es etwa um die beste Einspielung von Felix Mendelssohn Bartholdys erstem Klavierkonzert, konnte man in jedweden Plattenladen (ja, so etwas gab es damals noch physisch) gehen, und man bekam garantiert überall dieselbe Aufnahme in die Hand gedrückt: Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Neville Marriner, Solist: Murray Perahia.
Die wegweisende 1974er-Einspielung – eine der verschwindend wenigen, die die Academy seinerzeit beim CBS-Label realisierte – gilt bis heute als eine der bedeutendsten und zeitlos empfundenen Referenzeinspielungen eines der Hauptwerke der klassischen Musik schlechthin.
Manch einer dürfte deshalb gestaunt haben, dass Sony Classics – das direkte CBS-Nachfolgelabel – den inzwischen sehr renommierten deutschen Pianisten Martin Stadtfeld hier ausgerechnet noch einmal mit der Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Leitung des derweil in Würde ergrauten Dirigentengreises Neville Marriner ins Rennen schickt.

Gefundenes Futter also für alle Hifi-Puristen und Vergleichsbegierigen: Welche Aufnahme ist besser interpretiert, welche klingt besser – die „alte“ mit Perahia oder die „neue“ mit Stadtfeld?
Eins vorweg: Beide Editionen behalten ihren Wert, keine wird durch die jeweils andere deklassiert oder gar überflüssig gemacht.

Vielmehr fallen erstaunliche Parallelen auf: Gleich mit der furiosen Eröffnung ist klar, dass Neville Marriner und sein Orchester heute ebenso vital und kraftstrotzend zu Werke gehen, wie vor 38 Jahren. Vieles hat sich seit damals nur unwesentlich geändert. Die Tempi etwa sind bis auf geringe Abweichungen fast exakt dieselben wie anno dunnemals. Auch der grundsätzliche Orchesterklang unterscheidet sich nur in Details von der legendären 1970er-Einspielung.
Und so bleibt der größte Kontrast Solist Stadtfeld, der von Murray Perahias sattem Spätromantiksound so weit entfernt zu sein scheint, wie der Eifelturm von der Freiheitsstatue. Doch so, wie diese beiden Bauwerke vom selben Baumeister stammen, so haben auch Perahia und Stadtfeld beide gelungene und überzeugende Ansätze bei der Hand, um Mendelssohns wunderschönes Konzert zu interpretieren.

Perahia ließ es einst als Meisterwerk der Hochromantik glänzen und erstrahlen. Bei ihm war Mendelssohn zudem das, was man ihm gern nachsagt, nämlich ein Mozart-Epigone und -Erbe.
Bei Stadtfeld hört man vielmehr den luziden, klassizistischen Mendelssohn heraus – jenen Mendelssohn, der Johann Sebastian Bach wiederentdeckte und sich für einst vergessene barocke Meisterwerke stark gemacht hat. Sein Ansatz wirkt historisch „korrekter“, insgesamt transparenter und aufgeräumter – aber auch kühler, distanzierter.

Fazit: Die neue Stadtfeld-Aufnahme des Mendelssohn-Konzerts ist den Vergleich mit alten Ruhmestaten der Academy wohl wert und besteht diesen Test mit Bravour. Ob man sich nun für die Perahia- oder die Stadtfeld-Lesart entscheidet, bleibt letztendlich eine rein persönliche Geschmacksfrage.

Den Ausschlag zur Kaufentscheidung dürfte womöglich die auf der neuen Stadtfeld-CD ebenfalls enthaltene Klavier-Solomusik geben, die neben den sehr anspruchsvollen und kontrapunktgesättigten „Variations sérieuses“ op. 54 auch zehn der populärsten „Lieder ohne Worte“ Mendelssohns beinhaltet, die von Stadtfeld zuweilen – ich traue mich kaum es auszusprechen – ein wenig lustlos hingeträllert erscheinen.

Alles in allem hinterlässt dieses Album den Eindruck, dass all das, was „Anspruch“ verheißt, Martin Stadtfelds höchste Aufmerksamkeit erhält, während die „Crowdpleaser“ hier eher routiniert abgefertigt werden.
Mit einem historischen Blüthner-Flügel aus dem Jahr 1861 musiziert Martin Stadtfeld bei der Solomusik zudem auf einem Instrument aus Mendelssohns Zeiten, das man nur bedingt als klangschön bezeichnen kann. Da habe ich schon bedeutend wohlklingendere historische Flügel gehört, die auch mehr Dynamikpalette zur Verfügung stellen, als der hier zu hörende Blüthner.

Die CD ist als Limited Edition mit einer Bonus-CD erhältlich, auf der Stadtfeld neben Mendelssohn auch Schumann und Bach interpretiert.
Der Klang ist beim Konzert recht gut, etwas nah am Instrument zwar, aber schön transparent und trotzdem satt und voll. In diesem Punkt geht der Pokal klar an die neue Stadtfeld-Aufnahme (im Vergleich zu der eh noch nie besonders gut klingenden Perahia-Einspielung aus den 1970ern). Die Solomusik ist hingegen klanglich weniger optimal eingefangen worden, wobei es insbesondere an der akustischen Auflösung mangelt. Man kann nicht in den Raum „hinein hören“, der dreidimensionale Klangeindruck fehlt vollkommen. Alles klingt flach und etwas nach Achtzigerjahre-Standardsound. Das ist zweifellos etwas ärgerlich bei einer Einspielung, die allerorten als Premium-Produkt der Klassikbranche gehandelt wird.

Fazit: Die Solo-Klaviermusik ist hier weniger beeindruckend als das Klavierkonzert, das sich in dieser neuen Fassung selbst vor den Referenzaufnahmen von einst nicht zu verstecken braucht. Ein zweischneidiges Schwert also…

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