Conlon Nancarrow - late and unknown: works on rollsGenie oder Scharlatan - ein akustischer Einblick in die durchgeknallte Musikwelt des Conlon Nancarrowvon Rainer Aschemeier • 22. Oktober 2012
Noch heute kommt es einem ja manchmal über die Lippen, wenn die Musik des US-amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow erklingt: „Wow, wie irre ist das denn!?“ Conlon Nancarrow, 1912 geboren, 1997 verstorben, gehört zu jener Genration experimentierfreudiger Freigeister, der unter anderen auch John Cage angehörte. Während Cage seine individuelle musikalische Freiheit darin suchte, traditionelles Instrumentarium zunächst zu präparieren, später dann ganz zu verwerfen, war Nancarrow rein instrumental gesehen, eher ein Traditionalist. Ein ganz praktisches Problem hatte Nancarrow aber schon früh in seiner kompositorischen Laufbahn: Die Musik, die er im Kopf hatte und auch in Noten fasste, war unaufführbar – im Sinne des Wortes. Pianisten sind auch nur Menschen – und sie haben somit weder drei oder vier Arme, noch wären sie in der Lage, irrwitzige Intervallsprünge von den tiefsten Bereichen der Klaviertastaur bis zu den höchsten in fortlaufenden 64tel-Noten zu bewältigen. Conlon Nancarrow war kein Mann der Kompromisse, und so stieß er auf eine Technik, die eigentlich bereits zu seiner Zeit veraltet war: Das Player-Piano! Einst stand es im sogenannten „Wilden Westen“ in den Saloons und spielte wie von Zauberhand schmissige Tanznummern und sentimentale Cowboy-Balladen. Dies wurde durch gelochte Papierrollen bewerkstelligt, die – ähnlich wie die Lochkarten der allerersten Computersysteme – dem mechanischen Klavier anzeigten, welche Töne wann, in welcher Lautstärke und in welcher Geschwindigkeit auf der Tastatur zu erklingen hatten. Nancarrow brachte sich bei, wie man selbst Rollen für sein Player-Piano lochen konnte. Es wurde fortan seine Form der Komposition – Komponieren ohne Noten! Denn: Wozu brauchte man den jetzt noch Noten? Spielen konnten das Menschen ohnehin nicht. Das Player-Piano aber konnte! Auf der jüngsten CD-Veröffentlichung des Mainzer wergo-Labes erklingt es wieder: Das originale Marshall & Wendell Ampico Player-Piano aus dem Nachlass Conlon Nancarrows. Mit den von des Komponisten eigener Hand gefertigten Rollen, spielt es dessen Musik heute exakt genau so, wie sie Conlon Nancarrow einst selbst komponiert und erstmals gehört hatte. Diese CD zieht einen von Beginn an in ihren Bann: Sie leitet direkt in die auch heute noch ziemlich durchgeknallt wirkende musikalische Welt des Conlon Nancarrow. Heute gilt der einerseits als einer der maßgeblichen Pioniere der globalen Musikmoderne, andererseits aber auch als singulärer Ausnahmefall der Musikgeschichte. Keine Frage: Conlon Nancarrow war ein Unikum, ein Sonderling, ein Kauz und letztendlich auch ein Einsiedler. In der Wüste von Mexiko (Nancarrow war wegen linkspolitischer Aufmüpfigkeiten aus den USA verwiesen worden – ein typisches Opfer der McCarthy-Ära) kreierte er fortan seine musikalischen Seltsamkeiten, die noch heute zu frappieren wissen. War Nancarrow auch ein Genie, wie György Ligeti meinte? Oder war er, wie die Musikwissenschaft bis in die 1990er-Jahre sich noch ziemlich einig war, ein zwar interessanter, aber im Wesentlichen dilettantischer Komponisten-Scharlatan? Kaum eine CD-Veröffentlichung könnte dazu besser geeignet sein, sich selbst ein bild zu dieser Frage zu machen, als die neue von wergo! Deren Klang ist arg trocken, aber ansonsten vorbildlich – eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks. Und was die Interpretation angeht: Es gibt keine. :-) Ein Player-Piano spielt immer gleich – genau so, wie der Komponist es für richtig hielt. |
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