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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

21st century portraits - Shih
Ensemble "Die Reihe" - Georg Fritzsch; National-Sinfonie-Orchester Taiwan - Chien Wen-Pin

(2012)
capriccio

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21st century portraits - Shih

Entgegen der "Tradition"?

von Rainer Aschemeier  •  1. Oktober 2012
Katalog-Nr.: 5111 / EAN: 845221051116

Im Jahr 1974 kam ein 24-jähriger taiwanischer Musikstudent nach Österreich, um an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst Komposition und Harfe zu studieren – so schreibt es jedenfalls die wikipedia. Sie ist eine der wenigen Quellen, bei denen man überhaupt fündig wird, wenn man etwas mehr über Shih herausfinden will – jenen Musikstudenten von damals, der heute zu den in Österreich ansässigen Komponisten Neuer Musik zählt.
Wer von Shih bislang noch nichts gehört hat, sollte die Schuld nicht bei sich suchen. Gerade einmal eine einzige CD-Veröffentlichung mit Werken Shihs war bis zu dieser beim Label capriccio veröffentlichten und hier vorgestellten neuen Retrospektive erschienen – und die war auch noch vom österreichischen Rundfunk ORF selbst herausgegeben worden und – so weit mir bekannt ist – nur über dessen ORF-Shop erhältlich.

Da hat sich das inzwischen in Österreich ansässige capriccio-Label also für seine sehr löbliche „21st century portraits“-Reihe ein zumindest tonträgermäßig noch reichlich unbeackertes Feld ausgesucht.
Im Booklet wird (auch mit Zitaten des Komponisten selbst) gern betont, wie unkonventionell dessen Musik sei und wie stark sie „entgegen der Tradition“ komponiert sei.
Ich persönlich sehe das etwas weniger dramatisch: Shih komponiert ziemlich frei, kümmert sich in der Tat wenig um Konventionen oder wenn man so will auch Traditionen. Die Musik bedient sich aber sehr wohl hinlänglich bekannter Techniken. Sie ist eine ganz interessante Mixtur aus Atonalität (die mal frei-atonal, mal dodekaphonisch-seriell angelegt ist), tonalen „Einsprengseln“ und durchaus bewusst evozierten Exotismen, die wohl auf die taiwanesische Herkunft des Komponisten verweisen.
Das Große Ganze ergibt eine für mein Ohr ansprechende Melange, die man so oder ähnlich aber auch schon von anderen Neutönern vernommen hat. Shih ist also nichts essentiell Neuartiges gelungen, wie man beim Lesen des Booklet-Textes schnell glauben könnte.

Die Titel der auf dieser CD-Retrospektive versammelten Stücke sind überwiegend programmatisch: „Die Überquerung des Flusses“, „Wanderschaft“ und „Trennung“ – wobei „Die Überquerung des Flusses“ und „Trennung“ einem Zyklus aus ursprünglich drei Stücken entstammen, der im Booklet-Text etwas lapidar als „Fluss-Tryptichon“ bezeichnet wird.
Zudem gibt es noch die Stücke „Ein Takt für Neun“ und „Ein Takt für klavier und vier Streicher“. Diese erinnern – zumindest was die Titelgebung angeht – an die Spätwerke von John Cage.
„Ein Takt für Neun“ inkorporiert zudem recht exotisches Instrumentarium aus West und Ost: Laute, Pi-Pa, Erhu und Viola da Gamba.

Das Ensemble „Die Reihe“ musiziert unter der Leitung von Georg Fritzsch die meisten der genannten Werke. Bei dem Stück „Trennung“ kommt das National-Sinfonieorchester aus Shihs Heimat Taiwan zum Einsatz. Hier dirigiert dann Chien Wen-Pin. Laut Booklet sind die meisten Aufnahmen vom österreichischen Rundfunk mitgeschnitten worden. Sowohl interpretatorisch als auch klanglich sind die auf dieser CD zu hörenden Mitschnitte wirklich gut – wenngleich in beiden genannten Aspekten nicht perfekt.
Das Ensemble „Die Reihe“ wirkt nicht so überzeugend, wie manch andere Neue-Musik-Vereinigung, und der Aufnahmeklang ist bisweilen etwas arg spröde ausgefallen.
Beim Stück „Wanderschaft“ kommt Sopranistin Anu Komsi zum Einsatz, die in dem Stück Verse von Georg Trakl in für Nichteingeweihte kompositionsbedingt zumeist kaum textverständlicher Weise singt. Leider sind die vorgetragenen Texte auch im Booklet leider nirgends abgedruckt, sodass zumindest der Wortinhalt dieser Komposition für den Hörer eher im Unklaren bleibt – obwohl Anu Komsi ihre schwierige Aufgabe sehr sehr gut meistert!

Am besten gefällt mir das abschließende Stück „Trennung“, bei dem das National-Sinfonieorchester Taiwans eine lupenreine Leistung vorlegt und auch der Klang stimmt. Zudem finde ich in diesem Fall auch die rund zwanzigminütige Komposition mit dem beständig klingenden Gong wirklich originell.

Fazit: Die CD bietet eine sicher fällige Retrospektive der Musik von Shih. Die Einspielungen sind nicht allererste Sahne, aber im Großen und Ganzen gut. Das Highlight der CD ist das Stück „Trennung“ – sowohl kompositorisch als auch interpretatorisch.

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