R. Vaughan Williams - Early and Late Works
Royal Scottish National Orchestra - M. Yates
(2012)
Dutton Epoch
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Teils sensationelle Weltersteinspielungen rarer Früh- und (!) Spätwerke
von Rainer Aschemeier • 26. September 2012
Katalog-Nr.: CDLX 7289 / EAN: 76587728922
Eine Menge spannender, wenn auch nicht immer durchwegs guter Vaughan Williams-CDs sind in diesem Jahr bereits erschienen (Rezensionen siehe z. B. hier, hier und hier). Nun legt auch das britische Label Dutton Epoch nach, das sich bereits früher der gepflegten Wiederentdeckung Vaughan Williams’scher Frühwerke gewidmet hatte.
Sie ist eine etwas wilde, aber sehr lohnende Mischung geworden, die neue Dutton Epoch-CD mit bislang weitestgehend unbekannten Orchesterwerken des großen britischen Sinfonikers Vaughan Williams. Selbst ich, der ich mich als Vaughan Williams-Hardcore-Fanatiker bezeichne und über 100 CDs mit Werken dieses Komponisten mein Eigen nenne, habe von den meisten Stücken auf dieser CD noch nie etwas gehört, bzw. wusste gar nicht, dass diese Werke überhaupt existierten.
Vaughan Williams-Denkmal in der britischen Stadt Dorking in der Grafschaft Kent. Bildquelle: wikimedia commons; Foto: Leo Leibovici
Zwei Gründe gibt es dafür: Wie regelmäßige Leser von www.the-listener.de bereits wissen, hatte Ralph Vaughan Williams nach seinem Studium bei Maurice Ravel und der daraus resultierenden weiteren Professionalisierung seiner Orchestrierungskünste höchstselbst ein Aufführungs- und Publikationsverbot über die meisten seiner frühen Orchesterwerke verhängt. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 2007 hatte Ursula Vaughan Williams, die Witwe des Komponisten, dieses Publikations- und Aufführungsverbot aufgehoben.
Seitdem strömen in schöner Regelmäßigkeit herrliche CD-Einspielungen auf den Klassikmarkt, die uns mit den zum Teil sehr sehr reizvollen orchestralen Frühwerken Ralph Vaughan Williams‘ bekannt machen.
Zu dieser Fraktion zählt auch diese neue CD des renommierten Royal Scottish National Orchestra – einst so etwas wie das „Hausorchester“ des chandos-Labels, aber auch bei Naxos mit vielen, zum Teil hervorragenden, Aufnahmen vertreten. Unter der Leitung des hierzulande eher unbekannten Dirigenten Martin Yates erklingen auf ihr ausschließlich Weltersteinspielungen.
Moment mal, wie kann das sein? Kennt der eingeschworene Vaughan Williamsianer nicht zum Beispiel die „Folk Songs of the Four Seasons“ schon? Dieses, 1949 für einen gigantischen Amateurchor mit mehreren Tausend Mitwirkenden geschriebene Stück, ist bereits in mehreren verschiedenen Versionen auf CD eingespielt worden. Zudem ist es beileibe kein Frühwerk des Komponisten.
Des Rätsels Lösung: Auf dieser CD erklingen neben den ersten orchestralen Gehversuchen von Ralph Vaughan Williams auch einige seiner Fragmet gebliebenen Spätwerke oder eben Umarbeitungen von Altbekanntem. Zu letztgenannter Abteilung gehört auch die hier zu hörende, von Vaughan Williams‘ Mitarbeiter Roy Douglas anno 1952 erschaffene Orchestersuite der „Folk Songs…“, die Vaughan Williams derart überzeugend fand, dass er sie in seinen offiziellen Werkkatalog mit aufnahm.
In der Tat ist die Suite sehr geglückt und – nach meinem Dafürhalten – sogar die bislang schönste Version des in letzter Zeit in mehreren Versionen auf CD zutage getretenen Liedzyklus. Das ist schon einmal ein verheißungsvoller Beginn.
Mit der „Bucolic Suite“ folgt ein hochinteressantes Frühwerk aus dem Jahr 1900. Es zeigt, wie sehr sich Ralph Vaughan Williams mit seinen musikgewordenen Lektionen aus der Phase seiner Ausbildung bei Max Bruch abmühte. In der Tat klingt die „Bucolic Suite“ so, als wäre Vaughan Williams individuelle Tonsprache im Hintergrund stets bemüht, irgendwie die Vorhänge der Bruch’schen Harmonik zu durchbrechen und nach vorn zu drängen. Gelingen wollte es dem jungen Komponisten in diesem Stück gleichwohl noch nicht. Trotzdem ist dieser Konflikt – der letzten Endes wohl zum Studium bei Ravel führte – äußerst interessant anzuhören; vor allem dann, wenn man mit der weiteren Entwicklung Vaughan Williams‘ gut vertraut ist.
Die „Dark Pastoral“ für Cello und Orchester ist ein Fragment gebliebener langsamer Satz eines von Ralph Vaughan Williams in den Jahren 1942/-43 geplanten Cellokonzerts.
Und dieser Satz ist für mein Empfinden nun eine wirkliche Sensation! Das ist nicht nur Vaughan Williams at his most beautyful, sondern auch Vaughan Williams at his very best. Die bislang unbekannte, 2009 von David Matthews fertiggestellte Pastorale ist so umwerfend gut und dazu noch herzzerreißend schön, dass ich sie aus dem Stand ganz oben in die Liste der „must hear“-Stücke aus Vaughan Williams‘ Feder einreihen möchte.
Es steht zu hoffen, dass dieses knapp elfminütige Stück seinen Weg auch in die Konzertsäle und in das Repertoire von möglichst vielen Cellisten finden wird. Es ist nicht nur interessant für Vaughan Williams-Fanatiker wie mich, sondern es ist ein wertvoller Beitrag zur musikalischen Landschaft allgemein, ein wirklich wertvoller „Nachtrag“ in der Geschichte der jüngeren britischen E-Musik!
Solocellist Guy Johnston, der bereits CDs bei mehreren namhaften Labels eingespielt hat (unter anderem bei Orchid classics), macht hier seine Sache zudem sehr gut, sodass das Stück in der vorliegenden Weltersteinspielung Genuss pur ist.
Kein Wunder, dass danach wieder etwas die Ernüchterung eintritt: Die „Serenade in A minor“ aus dem Jahr 1898 ist dennoch eine Sensation, denn sie ist Vaughan Williams‘ allererstes vollendetes Orchesterwerk!
Der informative Booklet-Text verrät uns, dass sie in einer Zeit ausgeprägter Kommunikation des Komponisten mit dessen Freund und Kollegen Gustav Holst entstand. Das erklärt so Manches, unter anderem zum Beispiel die erstaunliche Ähnlichkeit zu Holsts früher Sinfonie „The Cotswolds“ (auch von jenem Stück hat es in diesem Jahr eine Neueinspielung gegeben; siehe hier). Aber auch Vaughan Williams‘ damalige professionelle Beschäftigung mit dem Werk Richard Wagners und natürlich der allgegenwärtige Einfluss des Lehrers Max Bruch wird hier deutlich.
Spannend ist das allemal, vor allem für jene, die wissen, wie sich Vaughan Williams‘ Stil im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte wandeln sollte. Aber mal ganz ehrlich: Die Serenade, die hier zu hören ist, ist weit entfernt von den besten Werken des Komponisten, wirkt stellenweise sogar in der Tat etwas amateurhaft, sodass es in diesem Fall vielleicht besser gewesen wäre, man hätte den Aufführungsbann für dieses unausgereifte Frühwerk beibehalten.
Wie dem auch sei: Als Gesamtschau ist diese CD ein weiteres Puzzlestück in dem Mosaik des Vaughan Williams-Frühwerks und eine wertvolle Quelle für all jene, die die Entwicklung des großen Sinfonikers studieren wollen.
Das Royal Scottish National Orchestra liefert unter der Stabführung von Martin Yates eine sehr kultivierte, professionelle Leistung. Die Interpretation ist sehr dynamisch, gut ausbalanciert und hinterlässt einen durchwegs sehr guten Eindruck.
Auch der Aufnahmeklang stimmt, wobei er in Sachen akustischer Auflösung leider nicht den state-of-the-art erreicht und auch in puncto Räumlichkeit zuweilen etwas über das Ziel hinausschießt. Aber gerade Letzteres habe ich in letzter Zeit schon öfters wahrgenommen, wenn Produzent Michael Ponder die Finger im Spiel hatte. Ponder arbeitet für viele internationale Labels, unter anderem für das DECCA-Nachfolgelabel onyx, für Naxos, Grand Piano, ASV, Guild und auch schwerpunktmäßig für Dutton Epoch.
Seine Leistungen sind in der Regel gut bis sehr gut, entsprechen aber zumindest nicht meinen subjektiven Kriterien von „gutem“ Raumklang.
Aber das sollte jeder selbst für sich entscheiden. Die CD ist jedenfalls eine warme Empfehlung für alle, die sich ernsthaft und ausführlich mit der Entwicklung von Ralph Vaughan Williams beschäftigen wollen. Ich denke allerdings, dass sie für die „Die-Hard“-Fans deutlich genussfähiger ist, als für Einsteiger in das Werk des großen britischen Komponisten.