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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

H. Villa-Lobos - Sinfonien Nr. 6 & 7
São Paulo Symphony Orchestra - I. Karabtchevsky

(2012)
Naxos

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Heitor Villa-Lobos - Sinfonien Nr. 6 "On the Outline of the Mountains of Brazil" & 7

Grandioser Villa-Lobos aus São Paulo!

von Rainer Aschemeier  •  1. September 2012
Katalog-Nr.: 8.573043 / EAN: 747313304370

Bereits in den 1990er-Jahren hatte das SWR-Sinfonieorchester unter der Leitung des texanischen Dirigenten Carl St. Clair eine Gesamteinspielung der famosen Sinfonien des brasilianischen Vaters der Musikmoderne – Heitor Villa-Lobos – begonnen, die seinerzeit viel Aufmerksamkeit erregte, so auch bei uns (siehe hier).
Leider war jene Edition nicht in allen Belangen zufriedenstellend, denn neben den fransenden Streichern des SWR-Orchesters und dem nicht so ganz zufriedenstellenden Sound der CDs, gab es da noch irgendetwas Anderes, was zumindest mir den Zugang zu der St. Clair-Einspielung der Villa-Lobos-Sinfonien immer erschwert hat. Was dieses „Andere“ war, fällt mir nun wie Schuppen von den Augen, nachdem Naxos die erste CD in seiner ambitionierten Reihe der Gesamteinspielung von Villa-Lobos-Sinfonien aufgelegt hat.

Unter der Leitung des renommierten Villa-Lobos-Experten Isaac Karabtchevsky, der bereits Ende der 1980er-Jahre eine sehr sehr gute Gesamteinspielung von Villa-Lobos populären „Bachianas Brasileiras“ beim Harmonia Mundi-Ableger „Iris“ vorgenommen hatte, erklingen auf dieser Naxos-Novität zwei der schönsten und zugänglichsten Sinfonien des brasilianischen Maestros.
Und, um das Rätsel denn nun endlich aufzulösen: Es war die Phrasierung, die bei der Aufnahme des SWR-Sinfonieorchesters unter Carl St. Clair Probleme machte. Da es seinerzeit noch keine Alternativaufnahme gab, konnte man das aber – wenn überhaupt – nur erahnen, denn auch Studienpartituren von Villa-Lobos-Aufnahmen sind ja rar gesät.

Karabtchevsky hat diese Musik hingegen so verinnerlicht, dass er mit seinem Dirigat über das erneut grandios aufspielende Sinfonieorchesters aus São Paulo den Geist des Komponisten förmlich auszuatmen scheint – so „aus einem Guss“ erscheinen diese Aufnahmen. Sie sind auf der vorliegenden CD nicht nur glänzend interpretiert, phrasierungstechnisch durchwegs konsistent und überzeugend, sondern (und das ging der St. Clair-Einspielung leider etwas ab) in hohem Maße ausbalanciert und harmonisch nachvollziehbar. Villa-Lobos‘ Musik bewegt sich hin und wieder am Rande des Chaos, kommt mit ungemein dichten und komplexen Instrumentationsgeweben daher – und kann daher Orchester und Dirigenten vor große Probleme stellen.
Der Komponist verlangt den Ausführenden dieser Musik viel ab. Denn der „rote Faden“ dieser Musik, jenes Band, das die Sinfonien zusammenhält, will erst einmal gefunden werden. Isaac Karabtchevsky gelingt das hier auf grandiose Art und Weise. Kein Wunder: Hat er doch als Projektleiter die kritisch revidierte Neuausgabe der Villa-Lobos-Sinfonien angestoßen, die seit dem Jahr 2011 (gefördert vom braslianischen Staat) in vollem Gange ist.

Das Ergebnis ist mehr als beeindruckend. Wer Villa-Lobos nur von seinen bekannten „Bachianas Brasileiras“ her kennt, wird sich wundern, dass Exotismen (wie sie in Villa-Lobos sonstigem Werk durchaus gang und gäbe sind) in den Sinfonien kaum vorkommen.
Andere Hörer hingegen, nämlich solche Leute, die Villa-Lobos bislang als „kompositorisches Leichtgewicht“ betrachtet haben, sollten sich erstens schämen und zweitens einmal diese beiden faszinierenden, vor Substanz nur so strotzenden Sinfonien hier anhören! Das ist jederzeit völlig gleichwertig zu den Erzeugnissen der globalen Komponistenelite in der Entstehungszeit dieser Werke aus den 1940er-/50er-Jahren – und manches Mal vielleicht sogar auch überlegen!

Insbesondere die sechste Sinfonie ist ein Highlight sondergleichen. Villa-Lobos komponierte die Hauptthemen der einzelnen Sätze mithilfe von Schablonen, die er über Foto-Positive der Bergketten von Brasilien legte. Jeder Gipfel markierte eine Note, die horizontalen Abstände zwischen den Bergen wurden zu Tonlängen, die vertikalen Abstände legten die Tonhöhen fest.
Kommt einem bekannt vor? Richtig: Auch Olivier Messiaen und John Cage bedienten sich dieser Methode. Allerdings übernahmen sie sie von Heitor Villa-Lobos – und nicht etwa umgekehrt.

Keine Frage: Heitor Villa-Lobos, der von den meisten Komponistenkollegen seiner Zeit als kongenialer Partner eingestuft wurde, war zu Lebzeiten berühmter und geschätzter, als er heute ist. Zu Villa-Lobos‘ Zeit in Paris (1923 und 1927-30) kam es in der dortigen Musikszene, die seinerzeit als die bedeutendste in Europa, wenn nicht der ganzen Welt galt, zu einer regelrechten „Villa-Lobos-Verschossenheit“, die Igor Strawinsky zu sarkastischen Kommentaren verleitete, auf die Heitor Villa-Lobos wenig charmant zurückgepatzt haben soll: „Strawinsky? Ein alter Furz!“.
Was diese leidlich amüsante Episode zeigen soll, ist vor allem, dass Heitor Villa-Lobos sich darüber bewusst war, was er zum globalen Musikgeschehen beitragen konnte: Eine eigene Stimme, eine Tradition, die nicht der europäischen entsprach, einen Einfluss, den vielleicht nur er als brasilianischer Außenseiter der europäischen Musikbequemlichkeit, die sich allzu selbstzufrieden in Expressionismus und Impressionismus suhlte, einzuimpfen imstande war.
Der Effekt, den das hatte, war gewaltig! Allein schon diese Leistung ist bemerkenswert, hat tatsächlich die weitere Musikgeschichte nachhaltig beeinflusst.

Heitor Villa-Lobos ist eine zentrale Figur der Musikmoderne, und kein Label hat das früher erkannt, als Naxos bzw. Marco Polo. Mit durch die Bank sehr guten Einspielungen liegt dort das wohl beachtlichste Archiv für eingespielte Musik aus Villa-Lobos‘ Feder vor. Wenngleich auch Mitbewerber wie das schwedische High-End-Label „BIS“ in den Nullerjahren einige wegweisende Aufnahmen herausgebracht haben (so etwa die Gesamteinspielung der „Choros“ – Villa-Lobos‘ zweitem zusamenhängenden Zyklus nach den „Bachianas Brasileiras“), ist nun zweifellos Naxos die richtige Adresse, um diese phänomenalen Neueinspielungen der Villa-Lobos-Sinfonien zu veröffentlichen.

Neben der bereits erwähnten Klasse der Interpretation, die sich hier findet, ist auch der sehr gute Klang dieser Scheibe zu betonen, der erneut von Tonmeister Ulrich Schneider in Szene gesetzt wurde. Für BIS und Sony Classics hatte Schneider bereits gezeigt, was er kann, und nahtlos zieht er sein Konzept nun auch für Naxos durch.
Das Endergebnis mag nicht alleroberste HiFi-Liga sein, aber ist um Längen besser, als die einstige SWR-Aufnahme der Villa-Lobos-Sinfonien unter Carl St. Clair auf cpo.

Fazit: Wenn alle CDs des neuen Villa-Lobos-Sinfonienzyklus so überzeugend werden, wie diese hier, dann steht uns ein editorisches Großprojekt ins Haus, das sich gewaschen hat – und das bisherigen Mitbewerbern, obschon die nicht von schlechten Eltern sind, nicht den Hauch einer Chance lässt…

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