The Eton Choirbook
Tonus Peregrinus
(2012)
Naxos
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"Freudvoller Lärm"
von Rainer Aschemeier • 3. August 2012
Katalog-Nr.: 8.572840 / EAN: 74731328407
„Die Franzosen singen, die Italiener trällern, die Deutschen jammern, und die Engländer veranstalten freudvollen Lärm!“
So lautet ein 500 Jahre altes Sprichwort, das sich auf das „Eton Choirbook“ bezieht – eine der größten und wohl auch großartigsten Manuskriptsammlungen aus dem vorreformatorischen England. Aus heutiger Sicht würde man es wohl kaum als „Krach“ oder „Lärm“ bezeichnen, was das Vokalensemble Tonus Peregrinus hier auf CD gebannt hat.
Es lässt Musik wieder lebendig und hörbar werden, die – das muss man sich einmal vor Augen halten – immerhin ein halbes Jahrtausend (!) auf dem Buckel hat. Für diese frühe Zeit enthält das Eton Choirbook, das hier in Auszügen erklingt, in der Tat erstaunlich reich klingende, voll tönende Musik. Womöglich war es dieser Umstand, der den zeitgenössischen Kommentator zu der oben genannten Metapher bewogen haben könnte. Ich zumindest habe selten prachtvollere, reicher komponierte Chormusik aus dem Mittelalter gehört, als auf dieser CD.
Es mag aber auch daran liegen, dass Polyphonie seinerzeit noch etwas ganz Neues war. Mehrstimmiger Chorgesang war vor 500 Jahren längst noch nicht 100%ig gesellschaftsfähig, ja, wurde von einigen Zeitgenossen sogar als nachgerade misstönend empfunden. Das Hörempfinden des mittelalterlichen Publikums war mit dem Zusammenklang unterschiedlicher Töne in den uns heute so vertrauten Terz-, Quint-Intervallen, usw. offenbar noch ziemlich überfordert.
Diese CD stellt – neben anderen Stücken – die weltweit früheste bekannte polyphone Passionsmusik vor, die von einem einzelnen, mit Namen bekannten Komponisten überliefert ist. Das zeigt, wie weit sich diese CD an die Anfänge der westlichen Musiktradition zurücktraut.
Das Ensemble Tonus Peregrinus aus Oxford nimmt diesen Umstand jedoch nicht als Bürde. Vielmehr zeigt es, wie lebendig solche Musik klingen kann. Tonus Peregrinus ist weit entfernt von dem gleichförmigen, ewig wummernden „Mönchsgesang“, den man sonst häufig als Chormusik des Mittelalters präsentiert bekommt.
Obwohl auch die Musik des Eton Choirbook geistlichen Ursprungs ist, schafft es Tonus Peregrinus, ihr eine gewisse Sinnlichkeit zu verleihen.
Dies liegt vor allem daran, dass die Sänger unter Leitung von Antony Pitts den Text dieser Kompositionen ernstnehmen und mit dynamischen Differenzierungen darauf reagieren.
Das nimmt den Kompositionen einiges von ihrer Strenge und schafft – bildlich gesprochen – eine sehr reizvoll anhörbare akustische Brücke zwischen dem eingangs zitierten, irdischen „freudvollen Lärm“ und den geistlichen Texten, die auf kommende himmlische Wonnen verweisen oder das Leid des Gottessohnes zum Inhalt haben.
Die Tontechnik ist dabei durchwegs exzellent! Kein Wunder: Unter den bewährten Händen von Tonmeister Geoff Miles und Produzent Jeremy Summerly hat schon so manche erstklassige CD-Produktion das Licht der Welt erblickt, und das quer durch den gesamten Klassikmarkt: von Harmonia Mundi France bis EMI Classics, von Renaissancemusik bis hin zur E-Musik von Deep Purple-Keyboarder Jon Lord.
Und so gibt es auch bei dieser Naxos-Produktion nichts zu meckern: Das ist eine Spitzenproduktion auf Weltklasse-Niveau von Leuten, die ihr Handwerk so perfekt verstehen, wie nur wenige andere.