Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Schulhoff, Sibelius, Janáček - Streichquartette
Henschel Quartett

(2012)
NEOS / codaex

• • • • •

Erwin Schulhoff, Jean Sibelius & Leoš Janáček - Streichquartette

Hochinteressante Wiederentdeckung von Schulhoffs erstem Streichquartett

von Rainer Aschemeier  •  30. Juni 2012
Katalog-Nr.: NEOS 11006 / EAN: 4260063110061>

Wenn es zwei Komponisten gibt, deren Wiederentdeckung wirklich lohnt, dann sind es Erwin Schulhoff und Mieczysław Weinberg. Darüber haben wir bei www.the-listener.de gerade in jüngerer Vergangenheit viel und häufig geschrieben. Die vielen Pluspunkte beider Komponisten, das völlig ungerechtfertigte allgemeine Vergessen ihrer Werke – all das möchte und muss ich an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholen. Regelmäßige Leser unseres Blogs wissen, dass ich ein großer Fan dieser beiden Komponisten bin und jede neue CD, die sich ihrem Werk widmet, zumindest mit großem Interesse verfolge und gern auch hier vorstelle, wenn es sich lohnt.

Doch eines muss man mal erwähnen: Kaum ein Label in Europa hat sich um die Wiederentdeckung der Werke von Weinberg so verdient gemacht, wie NEOS – jenes erst 2007 ins Leben gerufene Label für Musik abseits des Mainstreams. Auf diesem hoch interessanten und qualitätsbewussten Label kommt nun die neueste CD des renommierten Henschel Quartetts heraus, und sie bringt nun NEOS auch in die Lage, ein vergessenes Streichquartett von Erwin Schulhoff wieder in den Fokus zu rücken.
Die Dame und die Herren vom Henschel Quartett hatten einst unter anderem mit einer fabelhaften Gesamtaufnahme der Mendelssohn-Streichquartette auf dem Sony-BMG-Budget-Ableger Arte Nova für viel Wirbel in der deutschen Klassikszene gesorgt. Denn die Aufnahmen gehörten (und gehören noch!) zu den besten auf dem gesamten Klassikmarkt und kosteten damals nur ein paar Euro.

Leider ging Arte Nova bekanntlich pleite, und die frühen Großtaten des Henschel Quartetts muss man heute leider mit der Lupe suchen – sie sind derzeit nicht erhältlich.
Doch mit NEOS verbindet das Henschel Quartett bereits seit Jahren eine fruchtbare Liaison, die sich nun ein einer neuen, einfach nur begeisternd zu nennenden SACD ausdrückt. Vorgestellt werden hier die ersten Streichquartette von Erwin Schulhoff und Leoš Janáček sowie das einzige Streichquartett von Jean Sibelius, das den Beinamen „Voces intimae“ trägt. Auch Janáčeks Quartett trägt einen Beinamen, nämlich „Kreutzer-Sonate“. Das hat allerdings nichts mit Beethovens berühmter Violinsonate zu tun, sondern mit Leo Tolstois literarischer Verarbeitung derselben – Janáček nahm sich Tolstois Novelle „Kreutzer-Sonate“ zum Vorbild, um ein programmatisch gefärbtes Streichquartett zu komponieren.

Während die beiden Werke von Sibelius und Janáček einem breiteren Publikum bekannt sein dürften, weswegen ich mir an dieser Stelle deskriptive Notizen erspare, ist das Schulhoff-Streichquartett eine echte Wiederentdeckung. Und was für eine!
Es steht völlig zurecht ganz am Beginn dieser schönen CD. Der Tscheche Erwin Schulhoff hat insgesamt drei Streichquartette geschrieben, von denen eines (op. 25) allerdings nicht nummeriert ist und in Fachkreisen gemeinhin als „nulltes“ Quartett bezeichnet wird. Das hier vorgestellte Streichquartett Nr. 1 ist also eigentlich Schulhoffs zweites.
Es ist ein Wirbelwind von einem Streichquartett: Wild, ungestüm, gelegentlich geradezu ruppig-volkstümlich im Ton. Es steckt voller herrlicher Melodien und an osteuropäische Volkstänze angelehnte Rhythmen.
Das Henschel-Quartett lässt sich auf Schulhoffs ausgelassene, wilde Komposition ein und musiziert ausgelassen und gelegntlich ungestüm, behält jedoch die Zügel stets fest in der Hand. Es ist somit nicht nur das Schulhoff-Quartett selbst, sondern auch die großartige Interpretation durch das Henschel-Quartett, das diese Aufnahme zu etwas Besonderem macht. Das ist hochgradig unterhaltsame, hervorragend komponierte und grandios gespielte Musik und zählt mit zum Besten, was ich in diesem Jahr bisher gehört habe.

Im direkten Vergleich ist das Sibelius-Quartett etwas weniger überzeugend – und zwar sowohl, was die Komposition als auch deren Interpretation angeht: Sibelius war einfach kein Streichquartettkomponist. Das Henschel-Quartett nimmt diese Musik ungewohnt „klassizistisch“, pflegt recht schnelle Tempi und lässt das gewisse „nordische Flair“ sehr vermissen, das andere – insbesondere skandinavische – Streichquartettensembles im Falle dieses Stücks besser vermitteln. Der Vorteil dabei ist, dass Sibelius‘ Quartett sehr luzide und durchhörbar gerät – aber man erkauft sich diese Klarheit durch fehlende Atmosphäre.

Das erste Streichquartett von Leoš Janáček zeigt, dass das Henschel-Quartett mit der musikalischen Sphäre der Osteuropäer sehr viel besser zurecht kommt. Janáčeks Werk erfährt durch das Münchener Quartett eine sehr inspirierte, geradezu spannende Interpretation, die der Referenzeinspielung des Schulhoff-Stücks auf derselben CD wieder das Wasser reichen kann.
Ich würde die Henschels gerne einmal Schostakowitsch spielen hören! Ich glaube, dieses Quartett wäre dafür wie gemacht!

Fazit: Leichte Abzüge bei Sibelius, ansonsten eine einfach nur tolle Streichquartett-CD – die übrigens auch vorzüglich klingt! Sie besitzt eine ideale Räumlichkeit, eine fantastische akustische Auflösung und vermittelt einen sehr natürlichen, wirklichkeitsnahen Klang eines Streichquartetts. Das SACD-Format unterscheidet sich klanglich nicht allzusehr von der CD-Spur, was einerseits all jene freuen dürfte, die „nur“ einen normalen CD-Player besitzen und andererseits dafür spricht, dass man sich beim Mastering aller Spuren (5.1 ist auch vorhanden, ich kann es allerdings nicht rezensieren, da ich SACDs ausschließlich Stereo höre) viel Mühe gegeben hat. Das hatten wir ja bei anderen Labels (selbst bei den ganz namhaften) schon ganz anders – nämlich viel schlechter – erlebt.
Abschließend kann eine warme Kaufempfehlung ausgesprochen werden!

Stöbern

Verwandte / ähnliche Artikel:

Archiv

Alle Reviews können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.