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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

69°42' North - 19°00' East Perspectives
Tromsø Chamber Orchestra - Kolbjørn Holthe

(2012)
Simax

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69°42' North - 19°00' East Perspectives

Musik von Webern, Pärt, Kurtág, Högberg und Lutosławski

von Rainer Aschemeier  •  1. Juli 2012
Katalog-Nr.: PSC 1302 / EAN: 7033662013029

Neue Musik ist nicht jedermanns Sache. Es soll Leute geben, die würden eine CD, auf der die Namen Webern, Lutosławski oder Kurtág prangen, nicht einmal mit der Kneifzange anfassen – und selbst das ist vielleicht noch zu optimistisch gedacht.
Denn die oben genannten Drei, die ohne Zweifel nicht nur zu den bedeutendsten sondern auch zu den bekanntesten Vertretern der Musikmoderne des 20. und (im Falle Kurtág) auch des 21. Jahrhunderts gehören, sind – da machen wir uns mal nichts vor – selbst regelmäßigen Konzertgängern und Klassikhörern häufig nicht einmal bekannt.

Noch immer schwelgt die Mehrheit der Klassikfans im Schönklang der Romantiker oder in der Galanterie der Wiener Klassik. Wenn schon „modern“, dann höchstens mal Strawinsky…

Das norwegische Label Simax schafft es immer wieder, erlesenen Auswahl-CDs mit Neuer Musik breite Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wie es das macht?
Das zeigt keine CD besser, als die jüngst neu erschienene CD des Kammerorchesters aus Tromsø – eigenen Angaben zufolge übrigens das „nördlichste Kammerorchester der Welt“.
Wer diese CD kauft, erwirbt ein Konzept, keine Komponisten. Unter dem neugierig machenden Titel „69°42‘ North – 19°00‘ East Perspectives“ hat das Kammerorchester aus dem norwegischen Tromsø seinen eigenen Standort zum Thema gemacht.

Die norwegische Stadt Tromsø liegt nördlich des Polarkreises. Sollte man bei diesem Foto kaum für möglich halten... Bildquelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Troms%C3%B8_view2.jpg

69°42‘ Nord und 19°00‘ Ost sind nämlich die geografischen Längen- und Breitenkoordinaten für die Stadt Tromsø. Zwischen Ende Mai und Ende Juli geht die Sonne dort nicht unter – es herrscht die berühmte „Mitternachtssonne“. Andererseits ist es zwischen Ende November und Ende Januar auch tagsüber stockdunkel. Die Jahresmittel(!)temperatur liegt bei ungemütlichen 2,5 °C, im Winter liegt die Temperatur über Monate dauerhaft unter dem Gefrierpunkt.

In einer solchen Umgebung kann man sich schon einmal einsam, verlassen, vielleicht auch verzweifelt fühlen.
Der Untertitel „Perspectives“ lässt ahnen, dass es diese Nuancen des Lebens nördlich des Polarkreises sind, die das Tromsø Chamber Orchestra mit den ausgewählten Werken vermitteln möchte. Ob man es nun gut findet oder nicht, dass die Fünf Sätze für Streichorchester, op. 5 von Anton Webern auf dieser CD im Booklet als Beispiel für Musik vorgestellt wird, die „Einsamkeit“ verkörpern soll, spielt eigentlich gar keine Rolle. Wichtig ist, dass das neugierig machende Konzept der CD helfen kann, diese Musik in die Hör- und Wohnzimmer möglichst vieler musikbegeisterter Menschen zu bringen.

Und die Musik, die hier ausgewählt wurde, ist durchwegs wohl gewählt und gut gespielt. Neben dem bereits angesprochenen Webern-Stück, das zweifellos zu den höchsten Gipfelpunkten der Musik des 20. Jahrhunderts gehört, hören wir auf dieser CD noch den „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“ des Esten Arvo Pärt, das kurze Stück „Aus der Ferne“ von dem ungarischen Komponisten György Kurtág, das ungewöhnliche Kontrabasskonzert „Hitting the First Base“ vom enfant terrible der schwedischen Neue-Musik-Szene, Fredrik Högberg sowie „Musique funebre“ von dem bedeutendsten osteuropäischen Vertreter der Musik des späten 20. Jahrhunderts, Witold Lutosławski.

Während die meisten Stücke eingefleischten Liebhabern der jüngeren E-Musik durchaus bekannt sein dürften, ist es „Hitting The First Base“ vom Schweden Högberg, das auf dieser CD den „Exotenbonus“ erhält. Es ist ein ziemlich durchgedrehtes Stück, dieses Kontrabasskonzert, dessen Satzbezeichnungen allein man sich schon mal auf der Zunge zergehen lassen sollte. So benannte der Komponist den ersten Satz etwa mit der Anweisung „Wie eine Pizza, mit allem drauf“. Der dritte Satz trägt die Satzbezeichnung „Wie die Musik zu einem Videospiel mit Cartoon-Rennautos“. Der letzte Satz ist schlicht „Home Run“ betitelt.
Leider ist die Musik nicht halb so spannend oder wenigstens spaßig, wie es die Satzbezeichnungen vermuten lassen. Das Stück beginnt mit unverhohlenem Lärm, macht dann einen Ausflug in Gefilde, die an die „Cowboy-Ballette“ Aaron Coplands erinnern und endet schließlich relativ konservativ im teils atonalen, teils neu-tonalen Spektrum, das man von der Neuen Musik des 21. Jahrhunderts eben so erwartet.

Der Gesamteindruck der CD ist jedoch sehr sehr gut. Nicht nur wissen alle ausgewählten Stücke zu gefallen und sind ohne Zweifel ein höchst empfehlenswerter Einstieg für Neue-Musik-Einsteiger. Die CD ist zudem fabelhaft eingespielt, wobei das Tromsø Chamber Orchestra zeigt, dass es auf Weltklasse-Niveau musiziert. Der Klang ist ebenfalls sehr gut, erreicht meiner Meinung nach aber kein oberstes HiFi-Niveau. Das Klangbild müsste, um echtes HiFi-Niveau zu repräsentieren, insgesamt offener sein, klarer, durchhörbarer und zudem weniger mittenfixiert. Beim Kontrabasskonzert fehlt das Wichtigste, nämlich „Wumms“ im Bass.
Aber wie so oft, ist das mal wieder Meckern auf hohem Niveau. Diese CD ist sehr amtlich aufgenommen und operiert etwa auf demselben Niveau, wie wir es von den großen Majorlabels wie zum Beispiel EMI, Sony Classics, RCA oder Deutsche Grammophon gewohnt sind. Wer sich damit also anfreunden kann (und das kann ja eigentlich fast jeder), wird diese CD hier ebenfalls mit Genuss hören können.

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