Gulfstream — enhakēMusik komponierender Nachkommen in die USA ausgewanderter Europäervon Rainer Aschemeier • 19. Dezember 2011
Eine ganz spannende neue Kammermusik-CD ist im Dezember bei Naxos erschienen. Enthalten sind Stücke US-amerikanischer oder in die USA ausgewanderter Komponisten. Besonders neugierig war ich auf das praktisch brandneue Stück „Rodeo Queen of Heaven“ von Libby Larsen (wie immer, wenn es mal etwas Neues von dieser kompositorischen Ausnahmebegabung zu hören gibt). Jedem, der Libby Larsens Musik noch nicht kennt, ist dringend zu empfehlen, die Bekanntschaft damit schleunigst nachzuholen, denn zumindest für mein Empfinden, gehört die Komponistin aus den USA schon seit den 1980er-Jahren zu den wenigen wirklich vollauf überzeugenden Musikschöpfern der Gegenwart (s. dazu auch diese Rezension). Doch bevor ich hier allzusehr ins Schwärmen gerate, sollte noch erwähnt werden, dass auf dieser CD auch Stücke des in die USA ausgewanderten Niederländers Pieter Lieuwen, des US-Komponisten Peter Schickele (Sohn von elsässischen Emigranten) und von Aaron Copland, der Legende der jüngeren amerikanischen Musikmoderne, enthalten sind. Ein Wort noch zum Programm: Für die hier enthaltene Musik hätte der übergreifende Name „Gulfstream“ kaum besser gewählt werden können. Wir haben es hier mit Musik zu tun, die von wild und ungestüm, über kontemplativ-ruhig bis hin zu dynamisch-fließend viele Attribute beinhaltet, die man auch mit dem Gedanken an den Golfstrom assoziieren kann. Den Golfstrom darf man sich zudem als verbindendes Band zwischen Amerika und Europa denken, was auch auf die hier vorliegende CD zutrifft: Larsens Eltern waren ausgewanderte Norweger, Lieuwen stammt aus den Niederlanden, Schickeles Eltern kamen aus dem Elsass und Coplands Eltern waren litauische Emigranten. Auf diese Weise haben alle hier versammelten Komponisten die Musikkultur Europas nach Amerika gebracht, wo eine Entwicklung und „Umdeutung“ stattfinden konnte. Anhand von CDs, wie der hier vorliegenden, kann die so „amerikanisierte“ Musik nun wieder zurück nach Europa „fließen“, um Hörer zu erfreuen und europäische Musiker zu inspirieren. „Rodeo Queen of Heaven“ von Libby Larsen ist 2010 von enhakē uraufgeführt worden und ist dem Ensemble zudem gewidmet. Es entstand als „musikalische Reflexion“ auf eine Skulptur des Künstlers Arthur Lopez, welche eine Gottesmutter im Wildwestdress zeigt. Libby Larsen übersetzte diese originelle Idee in Musik. Das Ergebnis: Versatzstücke mittelalterlicher Marienmessgesänge werden im „Wildwestsound“ á la Coplands „El Salón México“ wiedergegeben. Die Idee ist witzig und logisch, überzeugt aber leider nicht so sehr, wie die sonst von Larsen gewohnten, naturmystizistisch angehauchten Klänge. Das Stück „Gulfstream“, das 2007 von Pieter Lieuwen geschrieben wurde und der vorliegenden CD ihren Titel gab, ist leider das schwächste im gesamten Programm: Das ziemlich uninspiriert und nach „Schema F“ der Musikmoderne komponierte Stück, das sich nicht zwischen Tonalität und Atonalität entscheiden kann, ist einfach nichts Besonderes. Eigentlich ist Musik wie diese die typische „premiere-only“-Klasse: Einmal beauftragt, einmal gespielt, nie wieder hervorgeholt. Doch diese CD sorgt dafür, dass das Stück nun in Tausenden von Wohnzimmern für elf Minuten Langeweile sorgen wird. Spannender ist da schon Peter Schickeles „Quartett für Klarinette, Geige, Cello und Klavier“. Es war ein kluger Schachzug Schickeles, ein Stück in derselben, extrem selten zu hörenden, Quartettbesetzung zu komponieren, wie Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“. Das garantiert „Aufführungsquoten“, denn Messiaens Stück ist bekanntermaßen etwa einstündig angelegt und somit nicht gerade abendfüllend. Eine „Ergänzung“ kommt da gerade recht. Schickele kann sich kompositorisch zwar keinesfalls mit Messiaen messen lassen, jedoch ist seine melancholisch-melodiöse, ruhig-gelassene Musik eine sehr angenehme Sache – auch wenn man sich das Wort „Anachronismus“ nicht verkneifen kann. Das 1982 komponierte Stück ist aber sicher auch im Umfeld der seinerzeit erstarkenden Minimalisten Steve Reich und Philip Glass zu sehen, und in den Kontext passt es auch sehr gut. Das Programm hat also Höhen und Tiefen. enhakē jedoch holen aus jedem Stück alles raus und rollen jedem einzelnen Komponisten auf der CD den roten Teppich aus. Das sind allesamt wirklich erstklassige Aufführungen! Fazit: Eine interessante Kammermusik-CD mit kleinen Schwächen und einem wenig überzeugenden Sound, jedoch mit großartigen Interpreten. Hier krankt es am Programm und am Tonmeister. Bei der nächsten enhakē-CD (Naxos kündigt uns im Booklet weitere Veröffentlichungen dieses tollen Ensembles an), müsste darauf geachtet werden, dass die beiden o. g. Schwachstellen schon im Ansatz korrigiert werden. Dann freuen wir uns auf weitere CDs der vier jungen Musiker, die sicherlich noch für viel Furore sorgen werden. ((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise von der Firma Naxos zur Verfügung gestellt.)) |
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