Janáček, Ravél, Prokoffjew — Ivana GavrićDrei Meister der Klaviermusik in "coolen" Deutungenvon Rainer Aschemeier • 17. November 2011
„From The Street“ ist das zweite Album der jungen bosnischen Pianistin Ivana Gavrić und erscheint erneut auf dem äußerst entdeckenswerten und ebenfalls jungen britischen Label „Champs Hill Records“. Gavrić gilt als Janáček-Spezialistin, und mit ihrer jüngsten CD führt sie ihr ebenso einfaches wie überzeugendes Konzept fort, die wichtigsten Klavierwerke Leoš Janáčeks als Zyklus einzuspielen, indem sie ihnen Werke anderer bedeutender Komponisten aus der gleichen Entstehungszeit gegenüberstellt. Das Ergebnis ist ein schillerndes Kaleidoskop europäischer Klavieravantgarde um 1900. Die CD wird von der Janáček-Komposition „1.X.1905 – Z Ulice“ eröffnet, deren Titel übersetzt „von der Straße“ bedeutet und somit die Grundidee des Titels dieses schönen Klavieralbums auf „Champs Hill Records“ lieferte. Janáček bezeichnete diese Komposition als „Sonate“, was sich formal nicht begründen lässt. Sie ist vielmehr eine unmittelbare künstlerische Reaktion des Komponisten auf dessen Miterleben der Krawalle von Brünn während der „Volkstage“ im Oktober 1905, als Tschechen und Deutsche sich auf den Straßen der Stadt – buchstäblich – die Köpfe einschlugen. Der Komponist erlebte einen Totschlag aus nächster Nähe mit und verarbeitete diese und eine andersgeartete private Krise in der Musik zu dieser „Quasi-Sonate“, die somit auch ein beeindruckendes Zeitdokument darstellt. Es folgt „Auf verwachs’nem Pfad“, das womöglich und zurecht bekannteste Zykluswerk von Klavierstücken, das wir von Janáček kennen. Es ist eine Reaktion des Komponisten auf den Tod seiner geliebten Tochter, mit der er oft auf einsamen Waldwegen umhergewandert war. Nun, nach ihrem Tod, „besuchte“ Janáček musikalisch noch einmal die wesentlichen „Wegmarken“ entlang der einst gewohnten Wanderroute. Dieser Klaviermusikzyklus ist für meine Begriffe ein Hauptwerk der Klavierliteratur vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Er ist absolut auf der Höhe seiner Zeit, er ist originell und stellenweise herzzerreißend schön. Dafür, dass Ivana Gavrić als Janáček-Spezialistin gehandelt wird und sich mit dieser losen CD-Reihe ja auch gerade dazu aufschwingt womöglich sogar eine Gesamteinspielung des Klavierwerks des Tschechen vorzulegen, bleibt sie für meinen Geschmack dieser Musik gegenüber emotional zu distanziert. Über ihre Technik ist allerdings nichts Negatives zu sagen. Hier, wie auch bei den nachfolgenden „Valses nobles et sentimentales“ von Maurice Ravél, erweist sie sich als sehr virtuose und den Schwierigkeiten dieser Musik zu jeder Sekunde ihres Vortrags gewachsene Pianistin. Sie hat auch einen eigenen „Sound“, ein eigenes Interpretationsmodell – nur ist das eher ein „kühl“ oder „akademisch“ wirkender Klang. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass einige diese Qualitäten bei der Musik Janáčeks durchaus zu schätzen wissen, zumal Gavrić es versteht, die deklamatorischen Aspekte in der Klaviermusik des Tschechen offenzulegen und somit die Möglichkeit herstellt, Querbezüge auch zu dessen revolutionärem Opernschaffen zu ziehen. Doch mein Geschmack ist es nicht unbedingt, und bei dem Ravél-Zyklus, einem Hauptwerk der impressionistischen Moderne, wird es dann gänzlich offenbar, dass Gavrić mit ihrem coolen Stil bei Stücken dieser couleur nicht wirklich weiterkommt. Grandios „trifft“ sie aber Prokoffjews zweite Klaviersonate op. 14, die das Programm dieser Neuerscheinung abschließt. Hier treffen sich zwei, die sich musikalisch gut verstehen: Der Neoklassiker Prokoffjew, dessen Musik einen gewissen Grad von Unterkühltheit und Akademismus geradezu einfordert und Ivana Gavrić, die für diesen Anspruch die perfekte Interpretin zu sein scheint. Auch dieses spieltechnisch ungemein schwierige Werk bewältigt die junge Bosnierin mühelos und hat mit ihrer Prokoffjew-Deutung viele Asse im Ärmel. Das ist wirklich ein Highlight in jeder Beziehung und krönt eine ansonsten ebenfalls sehr ordentliche CD. Und somit ist es abschließend mal wieder eine Geschmacksfrage: Wer die kühleren Aspekte von Impressionismus und Janáček-Stil schätzt, tut hier den richtigen Griff. Wer sich – gerade bei den emotional aufwühlenden Stücken, die von Janáček auf dieser CD versammelt sind – eine sinnlichere Deutung wünscht, muss sie woanders suchen und findet sie sicher auch, denn Janáčeks Klaviermusik wird ja völlig zurecht immer beliebter. Ivana Gavrić ist eine reife, technisch makellose Künstlerpersönlichkeit mit eigenem Ansatz und wird ihren Weg sicher machen. In Sachen Klang kann man erneut den hervorragenden Champs Hill-“Haus- und Hof“-Tonmeister Alexander van Ingen loben, der es auch dieses Mal wieder schafft, die offenbar hervorragende Akustik des Music Rooms von Champs Hill in Sussex unverkünstelt und faszinierend natürlich einzufangen. Die Räumlichkeit dieser Aufnahme, dieses „gerade genug“ an natürlich klingendem Raumhall ist ein wahr gewordener Hifi-Traum. Wenn ich überhaupt irgendetwas zu meckern hätte, dann höchstens, dass das Klavier im Bass-Sektor leicht limitiert wirkt. Aber das ist eine nur minimale Einschränkung einer ansonsten klanglich erneut sensationell guten Leistung des großartigen Alexander van Ingen, den ich ungelogen für einen der überzeugendsten Tontechniker der letzten Jahre halte. ((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“ zur Verfügung gestellt)) |
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