Music from Diaghilev's Ballet russes (2011)
• • • Musik für die "Ballet russes" — Strawinsky, Poulenc, LiadowStrawinskys französische Seitevon Rainer Aschemeier • 13. November 2011
Eine famose Sache erschien unlängst als Boxset beim britischen Qualitätslabel „Signum“, nämlich drei hochkarätig gehandelte Aufnahmen des BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung seines Chefdirigenten Thierry Fischer. Sie wurden zu ihren jeweiligen Ersterscheinungsdaten von den Kollegen der englischsprachigen Fachpresse geradezu über den grünen Klee gelobt. Von „joy“ war die Rede, die Aufnahmen seien „outstanding“, „marvellous“ oder gar „wonderful“. Höchstwertungen hinsichtlich sowohl Interpretation als auch Sound prasselten auf die walisischen Musiker mit ihrem schweizerischen GMD nur so hernieder. Die deutsche Presse hingegen schwieg sich über diese CDs weitestgehend und sehr beharrlich aus. Warum? Vielleicht liegt es ja am Programm, das Fischer und seine Waliser hier umgesetzt haben: Die drei CDs, die nun zum günstigen Komplettpreis mit voller Ausstattung und im dekorativen Schuber zu haben sind, thematisieren Musik, die für das Ensemble „Ballet russes“ geschrieben wurde, jene legendäre Tanzgruppe, die unter der Leitung des Impresarios Sergej Diaghilev für Furore im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts sorgte. Vor allem die Ballette, die Igor Strawinsky für dieses Ensemble schrieb (darunter „Der Feuervogel“, „Pulcinella“, „Petruschka“, „Le Sacre du Printemps“, „Apollo“ und andere), wurden zu Kassenschlagern und gelten bis heute als die beste Ballettliteratur, die seit Tschaikowsky geschrieben wurde. Doch auch andere Komponisten, darunter die Franzosen Francis Poulenc, Paul Dukas, Claude Debussy, der Russe Sergej Liadow und noch einige mehr komponierten Werke quasi „maßgeschneidert“ für Diaghilevs Ballettruppe. Eine wunderbare Grundlage für eine programmatische CD-Edition! Wo also ist der Haken? Der könnte darin liegen, dass bei Hänssler classics, einem deutschen Label und Lieblingskind des deutschsprachigen Feuilletons, ebenfalls eine Edition zum Thema „Musik für die Ballet russes“ zeitgleich auf den Markt kam. Inzwischen liegen dort schon sieben (!) CDs aus dieser Reihe vor, die von namhaften Rundfunksinfonieorchestern der Sendeanstalten der ARD eingespielt wurden. Thierry Fischer und seine Mannen von der BBC hatten gegen dieses Aufgebot zumindest bei der deutschsprachigen Kritik einfach zu wenig Aufmerksamkeitsbonus. Doch lassen wir die Hintergründe und widmen uns der Musik und ihrer Interpretation. Was „kann“ diese CD-Box? Wird sie ihre Käufer zufriedenstellen? In Sachen Interpretation erweist sich das BBC National Orchestra of Wales als ein vorzüglich agierender Klangkörper, der an allen Plätzen bestens besetzt ist. Das Spiel dieses Orchesters muss sich keinesfalls hinter dem der prominenten Londoner Kollegen verstecken, ganz im Gegenteil: Es ist bemerkenswert, wie die Anweisungen des dynamikversessenen Thierry Fischer (gerade in den leiseren und leisesten Passagen) umgesetzt werden. Das ist eine wirklich phänomenale Gesamtleistung des Orchesters. Doch auch Fischer muss man einige Hochachtung zollen, denn er hat dieses britische Orchester kompromisslos auf französischen Sound gebürstet. Ob man das schön findet, ist aber eine andere Sache: Während Fischers stark impressionistisch beeinflusste Lesart für die Liadow- und Poulenc-Stücke idealer kaum sein könnte, erscheint sie für einige Strawinsky-Darbietungen weit weniger angebracht. „Le Sacre du printemps“ klingt in Fischers Darbietung wie eine Art „dissonanter Impressionismus“, doch nicht wie der Auftakt zur großen expressionistischen Revolution, die der „Sacre“ ganz zweifellos repräsentiert. Fischer kehrt die erbarmungslose Brutalität dieser Musik, die akustischen Ausbrüche, die in anderen Interpretationen nervenzerfetzend spannend sein können, quasi „unter den Teppich“, nach dem Motto: „Jaja, dieses Stück ist an einigen Stellen schon sehr laut, aber hört doch bitte auch mal auf die sanften Stellen!“. „Petruschka“ wird unter Fischers Leitung die russische Seele geraubt, und es wird stattdessen französische Klangmalerei beschworen. Auch dieses Stück klingt, als hätte sich Debussys Faun auf einem seiner Nachmittagsspaziergänge in ein Strawinsky-Ballett verirrt. Fazit: Diese hoch gelobten Aufnahmen sind erstaunlicherweise weniger gut als ihr hervorragener Ruf. Sie sind gleichwohl eine hoch interessante, höchst individuelle Lesart eines Dirigenten, der konsequent die Klangwelt der Entstehungszeit dieser Stücke im Paris des aufkeimenden 20. Jahrhunderts anwendet. Dabei schießt er aber manchmal wohl etwas übers Ziel hinaus. ((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“ zur Verfügung gestellt.)) |
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