Musik der russischen Avantgarde 1905-1926Weniger spannend, als man hätte erwarten können...von Rainer Aschemeier • 8. Oktober 2011
Auf dem Papier eine ganz famose Sache, doch als Hörerfahrung leider eher mau… so etwas gibt es ja immer wieder. Auch bei der hier zu besprechenden CD war ich leider gerade an der Stelle enttäuscht, wo ich es eigentlich nicht erwartet hätte. Doch was stimmt nicht mit dieser Novität, bei derem Titel „Music of the Russian Avantgarde“ mir doch vor Vorfreude geradezu das Wasser im Mund zusammengelaufen ist? Fangen wir mit den positiven Aspekten an: Die CD ist zum Beispiel tadellos aufgenommen und eingespielt. Roger Woodward tritt hier nicht auf als irgendein Pianist. Nein, er sieht sich selbst als „man with a mission“; und im Rahmen eines 29-seitigen (!!!) Begleitessays zu dieser Neuveröffentlichung aus dem Hause celestial harmonies, dem Entdeckerlabel im klaviermusikbereich, erläutert er selbst höchst anregend, sagenhaft fachkundig und durchaus unterhaltsam alle, wirklich alle Aspekte zu der Musik, die wir auf der Aufnahme zu hören bekommen. Dabei schlägt er den ganz großen Bogen, beginnt bei Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ als einem Startpunkt der musikalischen Romantik, um davon ausgehend anhand mehrerer Zwischenschritte die Entwicklung erst hin zum russisch-spätromantischen Nationalstil und danach zur russischen Avantgarde darzustellen. Dabei erfahren wir Zusammenhänge, die schlicht frappierend sind und zumindest mich so manches Mal schlichtweg das Staunen gelehrt haben. So einen fabelhaften Begleittext habe ich selten gelesen. Wir führen die Worte des Lobes weiter und können eine technisch sehr gute Aufnahme vermelden. Zwar gibt es heute Klavieraufnahmen, die noch um Einiges realistischer und knackiger daherkommen (kürzlich hatten wir zum Beispiel diese hier in klanglicher Hinsicht besonders gelobt), doch ist diese Einspielung, die unter Federführung des Bayerischen Rundfunks entstanden ist, wirklich sehr hörenswert geraten. Auch von Julian Skrjabin, Alexander Skrjabins Sohn, der bereits als Elfjähriger verstarb, sind Kompositionen auf der ungewöhnlichen neuen CD des Pianisten Roger Woodward enthalten. Bildquelle: wikipedia; Artikel: Julian Skrjabin Also, nun raus mit der Sprache: Wo ist der Haken? Des Pudels Kern liegt dort, wo man es nicht vermuten würde: In den Kompositionen selbst. So vielversprechend der Titel „Music of The Russian Avantgarde“ auch sein mag — man sollte nicht zu viel erwarten. Es hat seine Gründe, warum Komponisten wie Roslavets, Stanchinskij und Obukhov heute praktisch keiner mehr kennt. Pianist Roger Woodward sieht die Gründe im Rahmen seines Essays freilich zu 100% in der langjährigen Unterdrückung der Musik dieser Avantgardisten durch die sowjetische „Kultur“-Junta begründet. Doch sein wir mal ehrlich: Das, was wir hier zu hören bekommen, ist einfach auch nicht so arg beeindruckend. Freie Atonalität vom Schlage Nikolai Obukhovs anno 1915 gab es seinerzeit von Arnold Schönberg, Anton Webern und nicht zuletzt auch von Russen wie Igor Strawinsky und Alexander Skrjabin einfach schon in deutlich originellerer und auch überzeugenderer Façon. Das vorgestellte Stück von Mossolow ist ebenfalls eher ungeeignet, um diesen höchst umstrittenen, immerhin aber einigermaßen bekannten Komponisten zu rehabilitieren. Auch von Boris Pasternak wissen wir nun, warum aus ihm ein Schriftsteller wurde und kein Komponist. Von Alexander Skrjabin und (man höre und staune) von dessen Sohn Julian Skrjabin (der schon elfjährig bei einem ungewöhnlichen Schwimmunfall im Dnjepr ertrank), hat Roger Woodward sich alle Mühe gegeben, um extrem selten zu hörende Raritäten aufzutreiben. Doch man fragt sich warum, denn die zu hörenden Stücke gehören nicht zu Alexander Skrjabins besseren Momenten, und in Sachen Julian Skrjabin muss man zwar den Hut davor ziehen, dass ein Elfjähriger solche Musik geschrieben hat; doch ist das vor allem ein Kniefall vor dem jugendlichen Alter des Komponisten, und nicht unbedingt vor dessen Werk, das eben auch nicht so ganz das „Gelbe vom Ei“ ist. Fazit: Wer sich nicht auf die kurzlebige Phase der russischen Musikavantgarde zwischen 1905 und 1926 spezialisiert hat und in der Ecke wirklich alles braucht, was der Markt hergibt, muss diese CD definitiv nicht haben. Die spannenden Entdeckungen, die man hinter dem Titel dieser Neuerscheinung vermuten könnte, werden leider meistens nicht erfüllt. Und was die russische Avantgarde als Solches angeht, so ist es deutlich lohnender, sich Schostakowitschs erste Klaviersonate anzuhören (die kennen auch nicht gerade Viele) oder Skrjabins wirklich bedeutendes Klavierwerk und nicht die versprengten Raritäten auf dieser CD. ((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma Naxos, zur Verfügung gestellt)) |
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