Russische Violinkonzerte (2011)
• • • • • Russische ViolinkonzerteSouverän und empathischvon Rainer Aschemeier • 3. Oktober 2011
Erst vor gut zwei Wochen musste man in den Gazetten die traurige Mitteilung vom Tod des großen Dirigenten Kurt Sanderling lesen, der einst in der Zeit des Nationalsozialismus als deutschjüdischer Exilant in die Sowjetunion geflohen war und dort tatsächlich zum Nachfolger des legendären Jewgenij Mrawinksi bei den Leningrader Philharmonikern ernannt wurde. Später holte Walter Ulbricht Sanderling dann zurück nach (Ost-)Berlin, wo dieser dann bekanntlich bis nach der „Wende“ das Symphonieorchester leitete. Auch in Bournemouth hat sich Sanderling schon des Öfteren herumgetrieben, woraus bereits zu Beginn der 1990er-Jahre eine der besten „Pulcinella“-Einspielungen (Strawinsky), die es überhaupt gibt resultierte. Das 1893 gegründete Bournemouth Symphony Orchestra, ein Orchester, das mit über 300 Einspielungen bei quasi allen großen und vielen kleinen Klassiklabels als eines der „meist aufgezeichneten“ Orchester der Welt gilt, gehört heute zu den namhaftesten und besten Klangkörpern Großbritanniens. Und dass die Kooperation Sanderling/Bournemouth auch heute noch gleichermaßen frische wie süße Früchte trägt, kann man nun auf der hier besprochenen neuen Veröffentlichung aus dem Hause Naxos nachhören. Hinter dem schlichten Titel „russische Violinkonzerte“ steckt eine grandiose Neuveröffentlichung, die nicht nur in Sachen Repertoirewert, sondern auch in puncto Interpretation kräftig punkten kann. Dargeboten werden hier zwei „alte Bekannte“, nämlich das e-Moll-Violinkonzert von Julius Conus (einst ein „Standard“ im Repertoire von Jascha Heifetz sowie Yehudi Menuhin) sowie das ungewöhnliche, einsätzige a-Moll-Violinkonzert, op. 54 von Anton Arensky. Als „Bonus“ und eigentlicher „Star“ des Programms ist aber das bis vor kurzem als verschollen geglaubte Concertino, op. 42 für Violine und Streichorchester von Mieczeslaw Weinberg aus dem Jahr 1948 zu feiern. Es liegt hier in einer Welterst- und vor allem auch Weltklasseeinspielung vor und offenbart erneut, wie viel Einfallsreichtum und kompositorische Klasse dieser Weinberg besaß, der nicht nur ein hoch geachteter Freund praktisch aller großen sowjetischen Komponisten gewesen war, sondern auch einer, der ganz oben auf Stalins „Abschussliste“ stand (womöglich wegen seiner ursprünglich polnischen Herkunft?). Ich möchte deshalb mit einer Besprechung dieses Stücks beginnen, das allein schon ausreicht, um die sechs oder sieben Euro, die diese CD kostet, mit einem Lächeln im Gesicht auf die Ladentheke zu legen. Es handelt sich um ein knapp zwanzigminütiges Stück, das einen wunderbar lyrischen, geradezu pastoralen Ton anschlägt und ihn auch behält. Der Part des Solisten ist weniger als Brillierpartie angelegt, sondern schlängelt sich vielmehr in spieltechnisch unmerklich anspruchsvollen Melodiegirlanden und dekorativen Arpeggien durch eine musikalische Landschaft aus weiten Ebenen berauschenden Streicherklangs und munter wirkenden Pizzicati. Es ist ein Werk, das ebenso heiter-besinnlich wie nachdenklich melancholisch wirken kann und seine faszinierende Ausstrahlungskraft gerade aus dieser Ambivalenz bezieht. Dieses wahrhaft große, bezaubernde Konzert muss keinen Vergleich mit irgendeinem anderen Violinkonzert scheuen, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Es zählt womöglich nicht zur absoluten Speerspitze der Gattung, jedoch zum allerobersten Qualitätsbereich. Die beiden anderen Konzerte auf dieser CD sind ebenfalls sehr schöne Stücke (vor allem das Arensky-Konzert), verblassen jedoch vor der großen Wiederentdeckung des Weinberg-Concertinos. Das Conus-Konzert aus dem Jahr 1898 ist ein typisches spätromantisches Violinkonzert mit einer „Schaut-mal-was-ich-alles-kann“-Rolle für den Solisten. Kein Wunder, dass es einst ebenso bekannt war, wie Tschaikowskis berühmter Gattungsbeitrag und im Programm der Flitzefinger Heifetz und Menuhin seinen festen Platz hatte. Musikalisch finde ich es aber eher weniger aufregend; zählt es doch aus heutiger Sicht zu der Art von Musik, die nachfolgende Komponistengenerationen überwinden wollten: Zu pathetisch, zu überladen, einfach nur konsequent und total „over the top“. Das abschließende Konzert der CD ist ein Beitrag des Russen Anton Arensky, für dessen Werk sich immer einige bedeutende Interpreten (darunter zum Beispiel Jewgeni Swetlanow) mit zum Teil großartigen Aufnahmen ins Zeug gelegt haben, dem jedoch bislang die große Wiederentdeckung versagt geblieben ist. Meistens wird das damit begründet, dass Arensky so eine Art „Tschaikowsky, Teil 2“ sei. Dieses immer wieder zu hörende Vorurteil mag stellenweise begründet sein, doch übergreifend betrachtet kann es nicht gehalten werden. Das Violinkonzert von 1891 legt jedenfalls nahe, dass es sich in Arensky weniger um einen Tschaikowski-Epigonen gehandelt hat, als vielmehr um einen, der frühzeitig erkannt hat, dass es sich künstlerisch (und sicherlich auch in barer Münze) lohnte, den etablierten Stil seiner Zeit(genossen) mit eher sanft eingebrachten Anklängen an die (aus seiner Sicht) modernere Musik zu verquicken. Und so höre ich in Arenskys Musik weniger einen Nachklang an Tschaikowski, sondern eher eine geschickte Mischung aus Borodin und Rachmaninoff (dessen Harmonielehrer Arensky später werden sollte, was man der Musik seines Schülers meines Erachtens noch bis ganz zum Schluss anhörte). Zuguterletzt sollte noch einmal erwähnt werden, dass es sich bei allen Beiträgen auf dieser CD um ausgezeichnete Interpretationen handelt. Solist Sergey Ostrovsky hat einen selbstbewussten und stilsicheren Ton, der gut zu den hier eingespielten Konzerten passt. Ihm ist aber auch eine Tugend eigen, die nur wenige Solisten haben, die in der Lage sind, Konzerte von dem hier zu hörenden Schwierigkeitsgrad zu spielen: Er vermag es, sich ganz in den Dienst der Sache zu stellen, sich auch sehr zurückzunehmen, wenn es die Komposition verlangt. Dank dieser musikalischen Empathie und dem ebenso durchdachten und behutsamen Dirigat von Thomas Sanderling, das das Bournemouth Symphony Orchestra in gewohnter Souveränität umzusetzen versteht, gelangen hier drei wirklich hervorragende Interpretationen von äußerst hörenswerten Werken. Fazit: Womöglich der lohnendste Kaufvorschlag des Monats Oktober; deswegen: Ran an den Speck! |
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