A. Campra - Le Carnaval de Venise (2011)
• • • • • André Campra — Le Carnaval de VeniseSpektakuläre Wiederentdeckung eines musikhistorischen Kuriosumsvon Rainer Aschemeier • 6. September 2011
Einst war Musik auch eine geographische Angelegenheit: Händel machte sich in Rom unbeliebt, weil er laut Meinung einiger hochgestellter Herren „viel zu französisch“ komponiert hätte. Im Gegensatz dazu verachtete der französische Barock die durch Rezitative „entstellte“ italienische Oper, die für französische Ohren wohl so etwas wie der Gipfel der musikalischen Unzugänglichkeit gewesen sein soll. Eine Annäherung fand somit nicht statt. Eher versuchten französische und italienische Komponisten lange Zeit, sich ganz bewusst voneinander abzugrenzen. In diesen Tagen erscheint eine neue CD beim spanischen Edel-Label „Glossa“, die beweist, dass es zumindest an Versuchen, beide Stile einander anzunähern nicht fehlte. Hierbei sollte allerdings gesagt sein, dass André Campras als „Opéra-ballet“ titulierter Vorstoß eine einmalige, selbst aus heutiger Sicht noch gewagt anmutende Kuriosität gewesen ist. Campra, zu seiner Zeit einer der beliebtesten Komponisten von Opern und geistlicher Musik im barocken Paris, nahm den „Karneval von Venedig“ zum Anlass, um ein groß angelegtes Bühnenwerk zu kreieren. Die Franzosen hatten zu der Zeit bereits viel vom venezianischen Karneval gehört, wobei die Stories, die man sich darüber hinter vorgehaltener Hand ins Ohr tuschelte, wohl vor allem die frivole und lustvolle Seite dieser Traditionsveranstaltung hervorgehoben haben dürften. Es wird die Maskenfreiheit und frivole Ausgelassenheit des venezianischen Karnevals gewesen sein, die Campra und sein Publikum faszinierten. In "Le Carnaval de Venise" bediente der Komponist diese Sehnsucht des Publikums nach schwungvollem Pomp und größtmöglichem Theatereffekt aufs vortrefflichste. Bildquelle: wikimedia commons. Ein richtiges Skandalwerk war es also, was André Campra sich hier vorgenommen hatte. Man kann sich gut vorstellen, wie sich sein „Opernballett“, das etwa 50/50 aus Gesangsnummern und aus rein instrumental dargebotener Ballettmusik besteht, dazu eignete, alle Facetten der Kostüm- und Bühnenbilderkunst in einer womöglich noch nie dagewesenen Fülle zu präsentieren. Zudem bot es mit der Verquickung des für das Publikum gewohnten französischen Stils und einer hoch interessant anzuhörenden Imitation des italienischen Opernhabitus auch dem Komponisten einen fabelhaften „Präsentierteller“. Trotzdem muss das Stück an irgendeinem Punkt der Musikgeschichte in Vergessenheit geraten sein. Vielleicht nahm man es nur eine Generation nach seinem Entstehen auch schon als das war, als das wir es heute auf den ersten Blick empfinden: Als Kuriosum, als etwas, das nicht in die gängigen Normen passt, als etwas, das sich als Sackgasse der musikalischen Entwicklung herausstellte. Die Einspielung von Le Concert Spirituel ist dazu absolut superb: Mit viel Verve und Elan musizieren die Franzosen und lassen „Le Carnaval de Venise“ prachtvoll wiederauferstehen. Dabei sind jedoch die Dynamik-Finessen, die Campra in sein Werk eingebaut hat, dem „Drive“ des Orchesters nicht zum Opfer gefallen: Ganz im Gegenteil; Le Concert Spirituel erweisen sich als sensible Sachwalter dieser großartigen Musik und verleihen dieser Aufnahme, nicht zuletzt auch durch die durchwegs vorzüglichen Gesangssolisten, deren Besetzung man sich nicht besser hätte wünschen können, Referenzcharakter. Es wird lange dauern, bis diese Wahnsinns-Leistung getoppt werden kann. Klanglich ist die Aufnahme oberstes „Glossa“-Niveau und somit eine uneingeschränkte Empfehlung für Hifi-Fans: Glasklare akustische Auflösung, die eine bis zum letzten Geigenbogen durchhörbare räumliche Klangkulisse entstehen lässt, paart sich mit dem warmen, kraftvollen Sound des französischen Orchesters, das auf historischen Instrumenten musiziert. Ganz im Gegensatz zu viel zu vielen „Alte Musik“-Einspielungen hat diese hier zudem richtig „Wumms“ im Bass, was die Aufnahme noch kerniger und solider wirken lässt. Fazit: Auch an der Klangfront macht sich Begeisterung breit. Eine wirklich fantastische Wiederentdeckung, die hoffen lässt, dass man noch weitere, ähnlich spannende Werke von André Campra wieder zu neuem Leben erwecken wird! ((Das Hörexempar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „note 1“ zur Verfügung gestellt.)) |
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