Modest Mussorgsky — Bilder einer Ausstellung / Franz Liszt — Klavierwerke /Mussorgskys weltbekannter Klavierzyklus in ungewohnt inniger Deutungvon Rainer Aschemeier • 28. August 2011
Nobuyuki Tsujii machte in den letzten Jahren immer mehr von sich reden, und zwar nicht nur, weil er einer der wenigen von Geburt an blinden professionellen Pianisten im „Konzertbetrieb“ unserer Tage ist. Seine Einspielung des zweiten Klavierkonzerts von Sergej Rachmaninoff mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin gilt als eine der allerbesten am Markt, und dass der blinde Tsujii die Goldmedaille beim äußerst renommierten Van Cliburn-Klavierwettbewerb gewann, wurde allgemein als die Sensation wahrgenommen und ging durch die musikalisch interessierte Weltpresse. Vor Kurzem erschien die neue CD des Japaners, auf der er ein weiteres Standardwerk des globalen Klavierrepertoires zum Besten gibt: Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Noch immer soll es ja Leute geben, die gar nicht wissen, dass dieses Stück ursprünglich kein Orchesterwerk war, sondern ein Zyklus von Klavierminiaturen. Zwar ist die Orchesterfassung im Endeffekt bekannter geworden als das Original, doch hat die Klavierfassung der Wiedergabe per Orchester doch Einiges voraus. Sie ist zum Beispiel deutlich „unbequemer“, rauer, „ehrlicher“ und vor allem russischer im Tonfall. Die meistens gehörte Orchestrierung stammt von Maurice Ravel, der seinerzeit nicht nur ein Stück (die 5. „Promenade“) bei seiner Bearbeitung einfach wegließ (oder vergaß?) und zudem die üppigen Klangfarben des französischen Impressionsmus in das Werk schmuggelte. Es gibt übrigens nicht weniger als 28 (!) Orchestrierungen des Werks (unter anderem von Leopold Stokowski, Vladimir Ashkenazy und Walter Goehr). Vielfach ist zu lesen, dass auch Rimsky-Korsakow eine Orchesterfassung angefertigt hätte, doch das stimmt nur zum Teil, denn er orchestrierte lediglich zwei Sätze; den „Rest“ erledigte einer seiner Schüler. Victor Hartmanns Gemälde von den Katakomben unter Paris wurde in Mussorgskys "Bildern einer Ausstellung" in schaurigen Tönen dargestellt. Bildquelle: wikimedia commons Kommen wir aber zurück zur Klavierfassung und vor allem zu Nobuyuki Tsujiis Interpretation derselben. Von Beginn an fällt auf, wie ungewöhnlich sanft und „samtpfötig“ der japanische Pianist dieses Werk interpretiert, das ja schon gleich zu Beginn auch einiges an Volumen mit sich bringt. Andere „Tastenlöwen“ donnern da ganz anders los, sodass einem meist gleich zu Beginn schon Hören und Sehen vergeht. Tsujii jedoch behält auch im weiteren Verlauf des Werks seinen eher introvertiert und zurückgenommenen Ansatz bei. Ist das nun gut oder schlecht? Sagen wir es mal so: Bei „Il vecchio castello“ und auch bei den „Tuileries“ und besonders bei „Cum mortuis in lingua mortua“ erscheint mir das so wunderbar, dass ich fast sagen möchte: So schön habe ich diese Stücke wahrscheinlich noch nie gehört. Bei anderen Sätzen, wie etwa der Hütte der „Baba Yaga“ oder bei „Gnomus“ und natürlich vor allem beim „Großen Tor von Kiew“ fehlt manchem vielleicht doch ein wenig das letzte, so richtig heftige „Zupacken“. Obwohl Mussorgsky hier mit „ff“-Vortragsbezeichnungen ja nicht geizt, sondern geradezu um sich wirft, geht Nobuyuki Tsujii an diese Stücke ebenfalls mit dieser merkwürdigen Distanziertheit heran, die seine gesamte Wiedergabe wie ein roter Faden durchzieht. „Distanziertheit“ ist allerdings eigentlich das falsche Wort, denn das „Problem“ (wenn man es denn als solches begreifen will), liegt vielmehr genau im Gegenteil begründet: Tsujii musiziert diese Musik sehr innig und ein Stück weit in sich gekehrt. Ob man das ausgerechnet bei Mussorgsky erwarten würde und vor allem mag, muss nun jeder selbst entscheiden. Ich persönlich hatte damit am Anfang meine Schwierigkeiten, weil ich es einfach ungewohnt fand. Mittlerweile finde ich Tsujiis Interpretatiosansatz aber durchaus schlüssig und auch sehr gelungen. Wir müssen uns vor Augen halten vor welchem Hintergrund Mussorgskys Werk entstand: Er schrieb es als Retrospektive auf das malerische Werk eines verstorbenen Freundes, nämlich des Malers Victor Hartmann. Behält man diese vom Werk nicht zu trennende Information im Hinterkopf, macht Nobuyuki Tsujiis eher introvertierte Darbietung sehr wohl Sinn und ist vielleicht näher an der „Wahrheit“, als es manch donnerndem Gewittervirtuosen gelingt. Wer übrigens glaubt, Tsujii wäre aus irgendeinem Grund (womöglich aus Gründen seiner Sehbehinderung) etwa nicht in der Lage, einmal so richtig wild „in die Tasten zu hauen“, der wird noch auf derselben CD eines Besseren belehrt. Zusätzlich zum Mussorgsky bekommen wir dort nämlich noch „Un Sospiro“ aus den „Trois Etudes de Concert“ von Franz Liszt zu hören sowie dessen Klavierbearbeitung von Konzertmusik aus Verdis Oper „Rigoletto“. Vor allem bei letztgenanntem Stück beweist Tsujii, dass er nicht nur in der Lage ist, auch schwierigste spieltechnische Anforderungen zu meistern, sondern auch, dass er vor brutalen Lautstärkeattacken nicht zurückschreckt, wenn er es für notwendig hält. Hartmanns Entwurf für ein neues Stadttor für die Stadt Kiew (der übrigens nie verwirklicht wurde) wurde in der musikalischen "Umdichtung" durch Modest Mussorgsky zu dessen wahrscheinlich bekanntesten Stück. Bildquelle: wikimedia commons Die CD wurde im bekannten Teldex-Studio in Berlin aufgenommen, wo unter anderem auch das Berliner Scharoun Ensemble gelegentlich aufzeichnet (vgl. z. B. hier: http://www.incoda.de/listener/reviews/189/beethoven-septett-op-20-sextett-op-71) oder auch die Berliner Philharmoniker, wenn sie in Kammermusikbesetzung musizieren. Ich habe aus diesem Studio noch nie einen minderwertigen Mitschnitt gehört, und so verhält es sich auch hier wieder. Zwar habe ich den Eindruck, dass man in puncto Bass auch in Sachen Tontechnik etwas zurückhaltend war (was auch zu dem oben beschriebenen Klangcharakter der Aufnahme beigetragen haben könnte), doch ist der Aufnahmesound ansonsten 1A und uneingeschränkt Hifi-tauglich. Nun stehe ich vor einem Dilemma: Ich würde gern die Höchstnote von fünf Punkten zücken, sehe aber auch ein, dass das gewagt wäre: Nobuyuki Tsujii wagt sich mit seiner zurückgenommenen Deutung von Mussorgskys weltbekanntem Klavierzyklus doch sehr weit weg von ausgetretenen Pfaden und erschließt sensibles, vielleicht all zu sensibles, Neuland. Aber was soll’s: Ich tu’s trotzdem! Höchstnote: 5 Punkte! ((Das Hörexemplar der CD wurde uns freundlicherweise von der Plattenfirma zur Verfügung gestellt.)) |
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