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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

E. Reusner - "Delitiae Testudinis", Vol. 1
Paul Beier

(2011)
Stradivarius / Klassik Center Kassel

• • •

Esaias Reusner - Delitiae Testudinis, Vol. 1

Für Lautenisten und Ornithologen

von Rainer Aschemeier  •  14. August 2011
Best.-Nr.: STR 33867 / EAN: 8011570338679

Es ist schon erstaunlich, was heute alles seinen Weg auf CD findet. Zwar erlebt die Lautenmusik im Allgemeinen scheinbar eine Art „Boom“ am Tonträgermarkt*, doch das, was hier auf dem italienischen Label „Stradivarius“ erscheint, ist schon extrem seltenes Repertoire. Esaias Reusner ist der Komponist der Lautenmusiksammlung mit dem schönen Titel „Delitiae Testudinis“. Übersetzen könnte man das in etwa mit „Die Freuden der Laute“, wobei man wissen muss, dass die Laute seinerzeit aufgrund der Form ihrer bauchigen Rückseite offenbar mit dem Panzer der Schildkröte (lat.: testudo, schildkrötenartig: lat. testudineus) verglichen wurde.
Man weiß über Esaias Reusner fast gar nichts, außer, dass bereits dessen Vater als Komponist von Lautenmusik in Erscheinung getreten war und dass Sohn Esaias an den Höfen von Breslau und Brieg tätig war. Sein Buch „Delitiae Testudinis“ ist nicht das einzige aus seiner Feder, die er in bemerkenswert schöner Kalligraphie zu schwingen wusste, wie uns eine Abbildung im Booklet zur hier besprochenen CD eindrucksvoll vor Augen führt.

Es ist durchaus beachtlich, dass dieses Repertoire, das bislang höchstens fachkundigen Musikwissenschaftlern ein Begriff gewesen sein dürfte, nun in einer auf gleich mehrere CDs angelegten Gesamtausgabe erscheint, von der die vorliegende mit „vol. 1“ betitelte den Beginn darstellt. Dass dieses schlesische Repertoire auf einem italienischen Label erscheint und von einem englischstämmigen Lautenisten eingespielt wurde, zeigt wieder einmal in eindrucksvoller Weise wie unwichtig doch heutzutage die Geographie geworden ist, wenn es um Musik geht. Zu Reusners Zeit war das jedenfalls ganz anders: Es gab klar abgegrenzte Stile, so zum Beispiel einen italienischen Lautenmusikstil und einen französischen. Reusners „Delitiae Testudinis“ wird als eines der ersten, vielleicht sogar als das erste Buch angesehen, welches Lautenmusik im französischen Stil beinhaltete und dann auch im Druck erschien, also wohl weitere Verbreitung unter Reusners Zeitgenossen fand.

Reusner, der ähnlich wie sein italienischer „Kollege“ Piccinini noch die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges miterlebte, schrieb bemerkenswert sanfte, mit unendlich vielen frühbarocken Verzierungen durchsetzte Musik. Bereits bei Piccinini, der ebenfalls zum lyrischen Ton neigte, ging mir das als Hörer sehr nahe; wirkt es doch, als hätten diese Musiker mit ihrem Werk eine klangliche Antithese zu dem schrecklichen Getümmel aufgestellt, das sie miterleben mussten. Dieser Gedanke gehört zwar ganz sicher zu der Sorte eigentlich nicht statthafter Dualismen, die kaum historisch belegt werden können, doch er drängt sich mir immer wieder auf: Wie friedvoll und in sich gekehrt ist diese Musik! Und wie rau waren die Zeiten, in der sie erklang…

Paul Beier ist ein stilvoller Sachwalter dieser Musik, obwohl die durch unzählige Verzierungen verschleierte und somit äußerst komplexe Rhythmik der Reusnerschen Stücke nicht immer sein Fall zu sein scheint. In dem Punkt, den man bei chronologisch späterer Musik als „Phrasierung“ bezeichnen würde, scheint mir Beier jedenfalls nicht immer ganz „treffsicher“ zu sein, was dazu führt, dass einigen Stücken hörbar der „Drive“ abhanden kommt, den diese Musik, trotz ihrer lyrischen Entrücktheit, zweifellos hat. Beiers Stil betont eher die elegante, gelegentlich fast ätherische Kunstfertigkeit der Stücke, weniger ihre rhythmische „Erdung“. Er steht damit in der Tradition von Lautenisten, wie zum Beispiel Konrad Ragossnig, der bei seinen Einspielungen, die zum Teil seit Jahrzehnten erhältlich sind und große Verbreitung gefunden haben, ebenfalls den Kunstanspruch der Lautenmusik sehr stark in den Vordergrund stellte und das „folkloristische“ Element dafür weniger stark betonte. Ob das für die Musik von Esaias Reusner der richtige Ansatz ist, mag ein jeder selbst entscheiden. Im Hinblick darauf, dass der Komponist seine Partitur kalligraphisch so kunstfertig gestaltet hat, dass man von seinem Autograph durchaus auch als grafischem Kunstwerk sprechen kann, hat die Interpretationsvorstellung Paul Beiers durchaus seine Berechtigung.

Ich komme abschließend zum eigentlichen Schwachpunkt der Einspielung: Zum Aufnahmeklang! Dazu werde ich mal ein wenig anekdotisch: Ich habe meinen Hörraum angrenzend an eine Terrasse, die sich hinter meinem Hörplatz befindet (die ich also nicht einsehen kann, während ich der Musik lausche). Erstaunlich häufiges Vogelgezwitscher in den Pausen der Stücke ließen mich aufmerken, und zuerst untersuchte ich meine Terrasse nach den zu hörenden, nicht aber zu sehenden „Phantom-Piepmätzen“. Ich habe mir dann die CD einmal per Kopfhörer zu Gemüte geführt und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn das Vogelgezwitscher kommt von der CD! Hat Paul Beier die Einspielung etwa bei offenem Fenster bewerkstelligt? Wir wissen es nicht. Jedenfalls erwirbt man mit diesem Tonträger auch unerwartete akustische Beiträge ornithologischer Art. Das ist aber gar nicht so schlimm, schon eher sympathisch.
Doch die Aufnahmetechnik ist insgesamt leider nicht mehr zeitgemäß. Ein relativ lautes Grundrauschen begleitet den ganzen Vortrag und die Dynamik könnte ebenfalls viel besser sein. Es gibt ja zuhauf CDs, die eindrucksvoll belegen, wie „High End“-ig Lautenmusik klingen kann (Ein Beispiel wäre zum Beispiel hier zu finden: http://www.incoda.de/listener/reviews/209/a-meeting-place-mittelalter-und-renaissancemusik-fuer-laute-und-ud). Die hier vorgestellte CD ist dagegen klangtechnisch so deutlich im Hintertreffen, dass man von einer anderen „Liga“ sprechen möchte: Schwer und vor allem direkt ins Mikrofon atmet der Lautenist, laut zwitschern die Vögel, sanft rauscht das Tonband (gibt’s das heute noch?) im Hintergrund… Das kennen wir aus den Siebzigerjahren, heute aber muss das nicht mehr unbedingt so sein. Es bleibt daher zu hoffen, dass dieses grundsätzlich sehr lobenswerte Unternehmen des „Stradivarius“-Labels mit verbesserter Tontechnik fortgeführt werden wird.

Für eingeschworene Lautenmusik-Fans ist diese Einspielung so oder so ein „Muss“, weil sie ein Desiderat am Schallplattenmarkt aufhebt. Allen anderen sei vorab ein Probedurchlauf empfohlen.

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise vom Vertrieb des Labels, der Firma „Klassik Center Kassel“ zur Verfügung gestellt.))

________________________________ *(jedenfalls habe ich hier in den letzten Wochen und Monaten unglaublich viele Novitäten auf diesem Gebiet angeboten bekommen und habe ja auch eine ganze Reihe davon auf diesen Seiten besprochen; bei Interesse, bitte auf unserer „Archiv-Seite“ in der Stichwortwolke auf „15. Jh.“, „16. Jh.“ und „17. Jh.“ klicken, dann bekommt Ihr fast alle Reviews aus diesem Genre angezeigt)

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