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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

A. Borodin - Sinfonien (Gesamtaufn.)
Seattle Symphony - G. Schwarz

(2011)
Naxos

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Alexander Porfirjewitsch Borodin - Sinfonien (Gesamtaufnahme)

Russische Seele und amerikanisches Blech

von Rainer Aschemeier  •  13. Juli 2011
Best.-Nr.: 8.572786 / EAN: 747313278671

Nachdem in Deutschland lange Zeit fast ausschließlich die Tondichtung „Eine Steppenskizze aus Mittelasien“ und die „Polowetzer Tänze“ aus der Oper „Fürst Igor“ bekannt waren und somit ein sehr lückenhaftes Bild des musikalischen Nachlasses von Alexander Porfirjewitsch Borodin ergeben hatten, haben sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten glücklicherweise noch zumindest zwei weitere Werke des Russen auf den Spielplänen etablieren können: Das zweite Streichquartett und die zweite Sinfonie. Vor allem letztgenanntes Werk liegt mittlerweile in einer Vielzahl verfügbarer Einspielungen vor, und das auch noch in Interpretationen mit früheren und gegenwärtigen, jedenfalls etablierten Größen des Konzertbetriebs. Von Solti über Bernstein bis hin zu Ashkenazy oder Svetlanov: Alle sind sie dabei und haben ihr Scherflein in die Waagschale geworfen.

Die hiermit neu erscheinende Gesamteispielung der Sinfonien Borodins bei Naxos trifft also auf ein Feld starker Konkurrenzeinspielungen. Doch Naxos muss sich nicht verstecken, denn mit der Seattle Symphony unter der seit Jahrzehnten bewährten Leitung von Gerard Schwarz, der auch am Pult des Radiosinfonieorchesters Berlin häufig anzutreffen ist, wartet das Label mit einer äußerst hochkarätigen Besetzung auf. Außerdem ist der Augenblick günstig, denn eine aktuelle Borodin-Gesamteinspielung — auf auch klanglich aktuellem Niveau — hat es schon seit Jahren nicht mehr gegeben.

Alexander Borodin, der Komponist der drei Sinfonien (die Dritte blieb unvollendet) die auf dieser CD vorgestellt werden, war eigentlich ein „Hobby-Komponist“. Im Gegensatz zu seinen Kollegen aus der losen Komponistengruppierung des berühmten „mächtigen Häufleins“, bestehend aus Balakirew, Mussorgsky, Rimsky-Korsakow, Cui und Borodin selbst, war er neben Cesar Cui der Einzige, der sich nicht von seinem sicheren Hauptberuf trennen wollte und sich daher nur in seiner Freizeit dem Musikstudium und der Komposition widmen konnte. Es ist jedoch erstaunlich, welche herrlichen Werke aus dieser nicht eben idealen Konstellation heraus trotzdem entstanden sind. Das musste selbst der ansonsten fast überkritische Dmitry Schostakowitsch später zugeben, als er sagte: „Borodin besaß eine ganz außerordentliche kompositorische Begabung. Jeder mit einer solchen Begabung begnadete westliche Komponist hätte sich hingesetzt, Symphonie auf Symphonie, Oper auf Oper geschrieben und ein höchst bequemes Leben gehabt.“

Borodin entschied sich jedoch für seinen Hauptberuf als Chemiker. Trotzdem schrieb er mit der zweiten Sinfonie ein Werk, dass ganz in das aufkeimende russisch-nationale Pathos des ausgehenden Neunzehnten Jahrhunderts passte und hierdurch in seinem Heimatland extrem populär wurde. Kein Wunder, dass er dafür auch mit überschwänglichem Lob überhäuft wurde. Nicht genug, dass der seinerzeit namhafte Musikkritiker Wladimir Stassow die lange Zeit gebräuchliche Formulierung von einer „Sinfonie der Helden“ für Borodins Zweite prägte; nein, ein Zeitgenosse erhob das Werk im Jubeltaumel gar auf eine Stufe mit Beethovens „Eroica“; — Das war zweifellos eine kolossale Übertreibung und hat der Sinfonie im Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte weniger genutzt als vielmehr geschadet, denn diesem Vergleich konnte Borodins Stück verständlicherweise nicht standhalten.

Mir persönlich gefällt übrigens die erste Sinfonie viel besser. In meinen Augen wirkt sie weniger bemüht und ist (ich sehe das eher als Vorteil an) noch weitgehend frei von allzu hohen Vorhaben wie der akustischen Vermittlung des gesammelten russischen Nationalstolzes inklusive Heldenverehrung und Beschreibung weiter Landschaften. Zwar scheint Borodin sich bei der Komposition der Ersten nachweislich und intensiv mit den Sinfonien Mendelssohns beschäftigt zu haben, für meine Begriffe ist das aber nicht hörbar (ich weiß, es gibt anderslautende Meinungen). Herrlich unangestrengt und melodienselig ergibt Borodins Erste ein Werk, dass ich am Ehesten mit den ebenfalls wunderbar „leichten“ ersten beiden Sinfonien Pjotr Tschaikowskis vergleichen möchte.

Die aufgrund des Ablebens des Komponisten unvollendet gebliebene Dritte wurde kurz nach Borodins Tod von Alexander Glasunow fertiggestellt und von diesem auch in recht freier Manier mit zusätzlichem musikalischen Material bestückt, das nach dem Tod Borodins wohl „noch so herumlag“. Inwieweit man also aus dem daraus entstandenen „Mix“ tatsächlich etwas heraushören kann, was Borodin selbst gern als seine Dritte gesehen hätte, ist ungewiss.

Sicher bleibt, dass die vorliegende Neuveröffentlichung aller drei Borodin-Sinfonien nicht nur die zurzeit günstigste am Markt ist, sondern auch eine sehr sehr gute. Die Seattle Symphony offenbart wie üblich beinahe überbordende Energiereserven und ist unter der sensiblen Leitung ihres langjährigen Chefdirigenten Gerard Schwarz zu feinsten Dynamikabstufungen in der Lage. Insbesondere die Holzbläser klingen quasi „original russisch“ (leider auch inklusive der von vielen alten russischen Orchestereinspielungen bekannten „Wackeligkeit“ im Zusammenspiel); das fulminante Blech des Orchesters aus Seattle ist aber typisch amerikanisch aufpoliert, wie es bombastischer nicht sein könnte. Eine etwaige „russische Seele“ vermittelt diese Musik unter dem Dirigat von Gerard Schwarz also nicht, dennoch haben wir es hier mit einer sehr soliden Aufnahme zu tun, bei der insbesondere das Schlagzeug und die erwähnten grandiosen Blechbläser sehr zu überzeugen wissen. Die Streicher aus Seattle sind im internationalen Maßstab nicht die alleroberste Weltklasse; dafür sind sie nicht homogen genug und neigen auch schon einmal dazu, manche Einsätze nicht kompakt zu „erwischen“. Aber das wussten wir schon von früheren Veröffentlichungen, und es kommt somit nicht überraschend.
Im Spektrum der verfügbaren Aufnahmen von Borodins Zweiter belegt die vorliegende CD ohne Frage zwar einen oberen Listenplatz, jedoch keinen der obersten. Im Vergleich mit den (wenigen) verfügbaren Gesamteinspielungen jedoch, ist diese Novität aus Seattle die bislang beste.

Der Aufnahmeklang ist im Verlauf der CD leider recht unterschiedlich. Während zweite und dritte Sinfonie mit glasklaren Bläsern, schöner Tiefenstaffelung und ordentlich „Wumms“ im Bass aufgezeichnet wurden, wirkt die Aufnahme der ersten Sinfonie irgendwie klanglich „limitiert“. Im direkten Hörvergleich zwischen den Aufnahmen von Zweiter und Erster „verengt“ sich die Bühne hörbar, ein Schleier legt sich über die hohen Frequenzen, und Blech und Schlagzeug wirken weniger strahlkräftig und auch wie „weit entfernt“. Doch auch insgesamt kann ich mir den Kommentar nicht verkneifen, dass dafür, dass die Seattle Symphony in einer angeblich akustisch besonders großartigen Halle spielt (in welcher auch die hier besprochenen Aufnahmen in den Jahren 2009 bis 2011 stattfanden), das Endergebnis, das den Weg auf Tonträger gefunden hat, klanglich eher durchschnittlich ausgefallen ist. Die CD ist aber immerhin so gut aufgenommen, dass sie auch passionierten Hifi-Afficionados nicht wirklich negativ auffallen wird.

Fazit: Eine in allen Belangen gute Einspielung und sicherlich die beste derzeit erhältliche Gesamtausgabe der Borodin-Sinfonien. Wer nur die Zweite auf CD sucht, findet anderswo auch besser eingespielte und klingende Aufnahmen — nicht aber zu den konkurrenzlos günstigen Naxos-Konditionen.

((Das Hörexemplar der CD für diese Besprechung wurde uns freundlicherweise von der Firma Naxos zur Verfügung gestellt.))

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