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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

F. Poulenc - Konz. f. zwei Klaviere, Suite Française, Concert Champêtre
Anima Eterna, Jos v. Immerseel, verschdn. Solisten

(2011)
Zig-Zag Territoires / outhere / note 1

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Francis Poulenc - Zwei Konzerte & "Suite Française"

Referenzeinspielung der schönsten Werke eines verkannten Meisters

von Rainer Aschemeier  •  16. Juni 2011
Best.-Nr.: ZZT 110403 / EAN: 3760009292475

Eigentlich reichte zur Besprechung dieses Prachtstücks ein einziger Satz: Für mich ist es DIE CD des ersten Halbjahres 2011, und einfach unheimlich nah an der p e r f e k t e n Klassik-Einspielung!

Die Perfektion, die ich hier proklamiere, äußert sich in all den Punkten, die bei einer Klassik-CD wirklich wichtig sind — und das sind: Programmzusammenstellung und „Idee“ (dieser Punkt wird bei Klassikaufnahmen am häufigsten vernachlässigt), Leistungen der Interpreten und zuguterletzt der Aufnahmeklang. Alle drei Punkte können bei dieser CD als herausragend bewertet werden. Jos van Immerseel und sein Ensemble Anima Eterna, die bislang vor allem als Ensemble für das gründliche Abstauben etablierter Werke der Klassik bekannt geworden sind, werfen anhand ihrer neuesten Produktion ein nur allzu fälliges Schlaglicht auf einen der ungerechtfertigterweise vernachlässigten Meister des 20. Jahrhunderts: Francis Poulenc.

Poulenc, der einst der „Groupe des Six“ angehörte, einem Zirkel französischsprachiger Komponisten, die sich auf die Fahnen geschrieben hatten, romantische Schwerfälligkeit aus der Musik ihrer Zeit zu fegen und mit unterschiedlichen Stilmitteln einen „frischen Wind“ zu kreieren, der bei allen „Mitgliedern“ dieser losen Gruppierung ganz unterschiedlich ausfiel. Im Falle von Francis Poulenc lag der „frische Wind“ zum einen in einer Zuneigung zur Neoklassik und zum anderen in einer Vorliebe für die Unterhaltungsmusik der Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Beide Einflüsse verquickte er zu einem sehr anregenden Personalstil. Später kam dann noch eine Hinwendung zu altkirchlichen Chorälen und Ähnlichem dazu. Poulencs Schaffen wird heute von vielen als nicht ganz als „vollwertig“ wahrgenommen. Schließlich hatte Poulenc zu seiner Zeit auch veritable „Hits“ auf Lager, die im Rundfunk liefen und auf den Straßen von Paris gepfiffen wurden. Es gibt daher nicht wenige Zeitgenossen, die Poulenc bis heute vorschnell als Schöpfer von reiner Unterhaltungsmusik abtun. Wie ungerecht eine solche Sichtweise ist, zeigen die kunstvoll komponierten Stücke auf der nun vorliegenden CD, die selbst Anklänge an balinesische Gamelanmusik aufweisen und somit späteren Entwicklungen, die meistens Komponisten wie Benjamin Britten und Colin McPhee zugeschrieben werden, vorausgehen.

Anima Eterna und Jos Immerseel geben ihr Bestes, um den beiden wunderbaren Konzerten und der „französischen Suite“ auf diesem Album einen nie gehörten Glanz zu verleihen. Das Konzert für zwei Klaviere hat nach meiner Einschätzung wohl noch nie so frisch und individuell geklungen wie hier. Dies ist keine pure Wiedergabe des Stücks, das hier ist eine mustergültige Interpretation, bei der sich die Ausführenden in Theorie und Praxis ungeheuer viel Mühe gegeben haben. Selbst aus kleinsten Feinheiten werden plötzlich neue, stilistisch wirksame Impulse geschöpft. Das beste Beispiel dafür sind die Streicher im zweiten Satz, in dem Poulenc Mozarts berühmtes Klavierkonzert KV 467 zitiert. (Nicht nur) hier werden die Streicher ganz ohne Vibrato vorgetragen, was ein „Feeling“ ergibt, als ob hier ein Werk der Klassik in historisch informierter Aufführungspraxis dargeboten würde. Diese Idee ist zweifellos nicht neu, denn Sir Roger Norrington ließ ja bis zu seinem Abgang das SWR-Sinfonieorchester sogar Tschaikowski ohne Vibrato spielen — was in vielen Fällen ganz und gar nicht überzeugen konnte. Immerseel geht jedoch weit umsichtiger vor als Norrington und späht sparsam aber zielsicher genau die Stellen eines Werkes aus, die durch seinen interpretatorischen Ansatz dann so hell strahlen, wie man es dieser wunderschönen Musik nur wünschen kann.

Die „Französische Suite“ gehört zu den frühen Beispielen der frankoeuropäischen Neoklassik und zeigt — wie alle anderen Stücke auf der CD — eine gewisse stilistische Nähe zu Igor Strawinsky. Das Stück ist ausschließlich für Blasinstrumente und ein Cembalo gesetzt. Letztgenanntes Instrument spielt dann die Hauptrolle im „Concert Champêtre“. Ebenso wie beim Konzert für zwei Klaviere, bei dem van Immerseel und Kollegen eigens zwei historische Klaviere aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende aufgetrieben haben, um einen Klang á la „roaring Twenties“ zu erzeugen, wurden auch bei Poulencs Cembalokonzert offenbar viel Zeit und Mühen darauf verwendet, um das richtige Instrument für die Aufnahme zu finden.
Das wunderschöne, melodienreiche „Concert Champêtre“ erfährt durch diesen „klanglichen Kunstgriff“ und eine erneut vor Ideen sprudelnde Interpretation eine Würdigung, wie es sie vormals kaum einmal gegeben hat, wenngleich die Ensembleleistung — insbesondere die „Sauberkeit“ der Einsätze — bei diesem Stück nicht so 100%ig überzeugt, wie bei den überirdisch guten Einspielungen des Klavierkonzerts oder der Suite. Dies mag daran liegen, dass das Cembalokonzert — vielleicht erneut Vorbild Strawinsky nacheifernd, vielleicht der relativ leisen Lautstärke des Soloinstruments geschuldet — vor rhythmischen Versetzungen und Kunstpausen nur so wimmelt.

Ich muss noch einige Sätze zum Aufnahmeklang verlieren, denn der ist schlicht g e n i a l . Diese CD ist der lange schon fällige Beweis, dass atemberaubend faszinierende Räumlichkeit unter Beibehaltung höchster Dynamikreserven und akustischer Auflösung bis zum letzten Triangelton möglich ist. Dadurch erreicht die Aufnahme einen Grad an Realitätsnähe, der bei Wiedergabe über eine High-End-Hifi-Anlage sprachlos macht und bei den Darbietungen eine geradezu atemlose Spannung generiert.
Ich sage es gerade heraus: Diese CD ist ein veritables Lehrstück für alle Tonmeister und sollte am Besten als Lehrgegenstand bei der Ausbildung neuer Toningenieure herangezogen werden.

Ich habe in diesem Jahr noch keine schöner zusammengestellte, besser klingende und insgesamt überzeugendere CD besprochen, als diese hier. Daher ziehe ich den Hut so tief wie möglich, vergebe meine fünf Punkte im Rahmen der bei uns möglichen Höchstwertung und kann sonst angesichts dieser bombastischen Leistung aller Beteiligten nur ins Schwärmen geraten.
Der Plattenfirma würde man gern noch raten, den Namen des Tontechnikers doch bitte demnächst mit ins Booklet aufzunehmen. Der hätte es nämlich genau so verdient, wie die ausführenden Künstler. Ich kann nur hoffen, dass wir alsbald noch mehr Veröffentlichungen dieses Kalibers von dem Orchester aus Brügge zu hören bekommen, das zumindest für mich schon seit Langem zur absoluten Speerspitze europäischer Orchesterkultur zählt.

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