A. Vivaldi - "Giorno e Notte"
Conrad Steinmann, u. a. Solisten
(2011)
Divox
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"Vivaldi goes Greek"
von Rainer Aschemeier • 24. Mai 2011
Jedes Kind kennt „Die Vier Jahreszeiten“, den programmatischen Konzertzyklus aus Vivaldis „Il cimento dell’armonia e dell’invenzione“ op. 8. Sehr viele – die allermeisten – anderen Instrumentalkonzerte des Meisters aus Venedig fristen im Vergleich dazu leider ein Dasein, das zu bedauern ist. Denn während sich für Vivaldis berühmtestes Werk Millionen von Menschen begeistern und weltweit immer wieder in die Konzertsäle pilgern, sind z. B. die wunderbaren Lauten- und Mandolinenkonzerte, die herrlichen Bläserkonzerte und damit eben auch die Blockflötenkonzerte den meisten Klassik-Liebhabern kaum oder gar nicht bekannt.
Das ist sehr schade, denn überall in im Œuvre des „prete rosso“ schimmern glänzende Perlen, die es eigentlich nur aufzuheben gilt, denn im Gegensatz zu ihrer annähernd völligen Ignorierung im gängigen Konzertbetrieb sind Vivaldis weniger populäre Instrumentalkonzerte auf Tonträger erfreulicherweise gut dokumentiert. Unlängst erschien eine CD mit Flötenkonzerten des venezianischen Priesters beim schweizerischen DIVOX-Label, die anno 2011 bereits in der zweiten Auflage vorliegt, denn sie war vor circa zehn Jahren schon einmal erhältlich. Offenbar waren die Aufnahmen des schweizerischen Blockflötenvirtuosen Conrad Steinmann unter dem Motto „Giorno e Notte“ („Tag und Nacht“) erfolgreich, weswegen DIVOX nun einen zweiten Anlauf in leicht veränderter CD-Ausstattung und mit leicht reduziertem Preis unternimmt.
Zu hören sind die Konzerte mit den Ryom-Verzeichnisnummern (RV): 108, 437, 443, 428 sowie 439. Liebhaber wissen, dass sich hinter RV 428 und 439 zwei Werke mit programmatischen Titeln verbergen, nämlich „Il Gardellino“ („Der Distelfink“) sowie „La Notte“ („Die Nacht“; Letzteres gibt’s übrigens auch in einer Fassung für Fagott, die mir immer besser gefiel als die Flötenversion). Beide Konzerte gehören zu den Vivaldi-Evergreens, die schon häufig eingespielt wurden und sich daher auch gut für einen Interpretationsvergleich eignen.
Ergänzt wird das Programm der CD durch zwei eingestreute Einzelsätze aus Konzerten für Solo-Streicher – was ich nicht ganz nachvollziehen kann und auch im CD-Booklet mit keiner kurzen Notiz erläutert wird. Ich nehme also an, diese beiden kurzen Einzelsätze sollen dem Konzept der CD – Stimmungsbogen: vom Tag zur Nacht – dienen.
Im Booklet, dessen Text vom Solisten Conrad Steinmann persönlich verfasst wurde, bekommen wir stattdessen allerlei interessante Informationen über die verwendeten Flöten zu lesen und folgen interessiert den Ausführungen des Künstlers über die historische Aufführungspraxis und die damit einhergehende mögliche Verwendung verschieden gestimmter und gefertigter Instrumente für ein und dasselbe Stück. Steinmann macht von der Praxis des Flötenwechsels regen Gebrauch, nutzt hörbar verschieden klingende Instrumente für die einzelnen Konzerte und tauscht – in Ausnahmefällen – selbst während eines Stücks sein Blasinstrument gegen ein anderes aus. Hier wurde also vom Interpreten ausgiebig experimentiert, was im Idealfall immer bedeutet, dass sich so jemand vorher auch viele Gedanken über die Musik gemacht hat, im schlimmsten Fall aber auch schwer daneben gehen kann. Wir werden sehen…
Für den Interpretationsvergleich eignet sich das Stück „Il Gardellino“, op. 10 Nr. 3 besonders gut, weil es dem Solisten eine Menge Freiraum zum Improvisieren bietet, weswegen anhand dieses Konzerts die Klangästhetik von Steinmann und co. auch deutlich wird.
Es treten an: Die vorliegende Steinmann-Aufnahme bei DIVOX, eine Einspielung von Blockflötenstar Dorothee Oberlinger und dem Ensemble Ornamente 99 auf dem Label „Marc Aurel Edition“ sowie Musica ad Rhenum mit ihrem Solisten und Leiter Jed Wentz auf Challenge classics. Alle „Wettbewerber“ musizieren auf historischem Instrumentarium, und, um es gleich gerade heraus zu sagen: Die Unterschiede der einzelnen Aufnahmen könnten kaum größer sein. Allein in puncto Vortragstempo sind grobe Abweichungen zu verzeichnen, so jagt die Musica ad Rhenum in sage und schreibe 1,38 min. durch den „Cantabile“-Satz des „Gardellino“-Konzerts, während Oberlinger mit 2,47 min. und Steinmann mit 2,44 min. etwa gleichauf liegen. Im Kopfsatz ist dann Steinmann deutlich flotter als die Konkurrenz, und zwar immerhin eine halbe Minute schneller als sowohl Ornamente 99 als auch die Musica ad Rhenum. Und dies sind lediglich die Unterschiede, die sich in Zahlen ausdrücken lassen, während sich die noch wesentlich frappierenderen klanglichen Abweichungen kaum in wenigen Worten wiedergeben lassen. Eins ist jedenfalls frappant: Conrad Steinmann und seine Mitmusiker pflegen einen relativ „ruppigen“ Sound, der gelegentlich an die bekannt eigensinnige Klangwelt des Ensembles „Il Giardino Armonico“ erinnert, ohne jedoch dessen Präzision zu erreichen. Sowohl Oberlinger als auch Jed Wentz mit seiner Musica ad Rhenum wirken „braver“ und auch in gewissem Sinne „barocker“. Bei Conrad Steinmann ist Vivaldi jedenfalls kein reiner „E-Musiker“, sondern auch ein „Volksmusiker“, der wesentliche Einflüsse auch aus der Mittelmeerfolklore bezieht – und dieser Ansatz ist gerade im Fall von Blockflötenkonzerten womöglich nicht eben der Falscheste. Man kann jedoch ruhig auch annehmen, dass dieser Ansatz bei Conrad Steinmann gewissermaßen „Programm“ ist, denn der Musiker, der auch als Musikwissenschaftler arbeitet, beschäftigt sich intensiv und experimentell mit der Erforschung und Aufführung der ältesten Musik, die wir kennen, nämlich jener der Aulos-Spieler aus dem alten Griechenland. Dieser, womöglich unbewusste (?), Einfluss würde dann auch manch „morgenländisch“ anmutende Verzierung in Steinmanns Spiel erklären, die wahrscheinlich nicht jedem „Vivaldianer“ behagen wird, aber mittlerweile ja durchaus salonfähig ist, wie u. a. auch eine CD-Einspielung der renommierten Academia Montis Regalis aus dem Jahr 2006 beweist („Concerto Rustico“; Capriccio), bei der Vivaldi in die Nähe „maurischer“ Klänge gerückt wird.
Getragen wird die Aufnahme von einem sagenhaft räumlich eingerichteten Sound, der einen sowohl im SACD- als auch im CD-Format bei den ersten paar Malen Hören uneingeschränkt bezaubert und einen heimlich denken lässt, dass doch einfach alle CDs so schön räumlich klingen müssten, und dann wäre die Welt schon in Ordnung. Bei mehrmaligem Hören erweist sich dieser erste Eindruck aber als die Verführungskunst des Raumklangs, der einen durch seinen überwältigenden aber letzten Endes schon etwas oberflächlichen Charme mühelos um seinen Finger wickeln kann. Bei näherem Hinhören ist vor allem die Oberlinger-Aufnahme von den Tonmeistern des WDR deutlich differenzierter und durchhörbarer angelegt, während den DIVOX-Tonmeistern bei aller wunderhübschen Räumlichkeit die Auflösung in den Tutti-Parts doch ein ums andere Mal „flöten“ geht…
Fazit: Eine für manchen Vivaldianer womöglich gewöhnungsbedürftige Interpretation (Stichwort: „Vivaldi goes Greek“) mit einem atemberaubenden Sound, der einem die große weite Bühne eröffnet – dies allerdings gelegentlich zulasten der Auflösung. Eine Höchstwertung kann man da zwar nicht vergeben, aber eine sehr warme Empfehlung für die experimentierfreudigen Hörer alle Mal.