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The Listener

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Gian Francesco Malipiero - Sinfonien Vol. 1
Moskauer Sinfonieorchester - Antonio de Almeida

(2008/1993)
Naxos

Gian Francesco Malipiero - Sinfonien Vol. 1

Moskauer Sinfonieorchester - Antonio de Almeida

von Rainer Aschemeier  •  13. Dezember 2008

Vieles, was das Naxos-Label derzeit aus den Archiven seines mittlerweile eingestellten „Entdeckerlabels“ Marco Polo wieder ans Tageslicht fördert, ist wirklich gut, manches gar fantastisch. Diese Aufnahmen von Sinfonien des hochinteressanten italienischen Komponisten Gian Francesco Malipiero sind jedoch – man muss es leider so hart formulieren – ein Verbrechen an der Menschheit! Und zwar ein besonders schlimmes Verbrechen: Ein Verbrechen der Art „Es hätte so schön sein können, wenn…“ Situationen dieser Art sind schon im Leben häufig genug und meistens kaum zu ertragen, deswegen ist es ein besonders schlimmes Vergehen, wenn eine Plattenfirma einen solchen Zustand auch noch auf CD presst, sodass ihn sich der unbescholtene Hörer immer wieder vor Ohren führen muss.

Muss er das? Ja. Leider! Denn die Sinfonien Gian Francesco Malipieros sind einfach zu spannend. Sie gehören vielleicht nicht immer unbedingt zum Wegweisendsten was das 20. Jh. zu bieten hatte, aber sie sind ergreifend persönliche Statements eines Komponisten, der sich um keinen Preis der Welt den gängigen Strömungen seiner Zeit anpassen wollte. Das heißt freilich nicht, dass nicht auch Malipiero Einflüsse gehabt hätte. Ganz im Gegenteil, zu einer Zeit seines Lebens (so um 1911-1915) stand er – wie viele andere Komponisten mit ihm – ganz und gar unter dem Bann des seinerzeit kometenhaft aufstrebenden Igor Strawinsky. Alles in allem ist Malipiero jedoch weitaus vielschichtiger.

Er begann als Spätromantiker, der bis etwa 1910 einen vom französischen Impressionismus beeinflussten Stil pflegte. In der Nachfolge Strawinskys entstanden dann Werke, die deutliche Einflüsse des „Sacre…“ oder der „Histoire du Soldat“ zeigen. Malipieros darauf folgende neoklassische Periode gehört zu seinen musikalisch interessantesten, wenngleich bei ihr ein disharmonischer, politischer Unterton mitschwingt, da Malipiero mit dem neoklassischen Stil gut in die faschistische „Kulturpolitik“ des damals von Mussolini geführten Italien passte, während viele seiner Komponistenkollegen Sanktionen zu erdulden hatten. Malipiero reagierte darauf, indem er seine Musik von sämtlichen Einflüssen und Zwängen befreite und seinem eh stets sehr ausgeprägten Personalstil nun freie Bahn ließ. Und so ist denn Malipieros Spätwerk für uns heute nur schwierig nachzuvollziehen, zum einen, weil es sich jeder formellen und harmonischen Konvention verweigert, zum anderen, weil dadurch ein starker Eindruck der Beliebigkeit entsteht.

Malipiero wurde oft als „italienischer Strawinsky“ oder als „komponierender Dilettant“ bezeichnet. Dass beides nicht stimmt, zeigte erstmals die Gesamtaufnahme seiner Sinfonien durch das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung des renommierten – mittlerweile leider verstorbenen – Offenbach-Spezialisten Antonio de Almeida, der auch großartige Rodrigo-Aufnahmen hinterlassen hat. Die Gesamtausgabe erschien in den frühen 1990er Jahren beim Marco Polo-Label, war bereits Ende der 1990er nur noch zu Sammlerpreisen auf dem Gebrauchtmarkt erhältlich und wird nun auf dem Naxos-Label wiederveröffentlicht. Wie löblich wäre das alles, wenn die Einspielungen nur ein wenig besser wären!
Das seinerzeit ganz frisch gegründete Moskauer Sinfonieorchester, das sich zu Beginn der 1990er hauptsächlich aus frischgebackenen Absolventen der russischen Musikhochschulen zusammensetzte, spielt die Sinfonien Malipieros dermaßen grotesk fürchterlich, kommt überhaupt nicht mit der vielschichtigen Rhythmik und immer wieder aufblitzenden Kontrapunktik des Italieners zurecht und wirkt fast durchgängig wie ein zwar bemühtes, doch heillos am Rande der Verzweiflung musizierendes Provinzorchester, dem man ruhig erst einmal ein paar Konzerterfahrungen mehr gegönnt hätte, bevor es überhaupt eine CD aufnimmt – geschweige denn Malipiero. Obwohl ich den Dirigenten Antonio de Almeida sehr schätze, kann ich mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass auch de Almeida oft mit den Malipiero’schen Klangteppichen überfordert gewesen zu sein scheint. Und dann ist da noch die offensichtlich viel zu kurze Probezeit zu nennen, sich äußernd in fransigen, teilweise gar richtiggehend auseinanderdriftenden Streichern, quiekenden Bläsern und rhythmisch unsicheren Perkussionisten. Wie unsagbar schade! Was für eine Chance – vertan! Einfach vertan!
Dabei ist Malipieros Musik so wunderbar. Der Komponist, der schon früh beschlossen hatte, einige seiner Werke zwar „Sinfonia“ oder „Symphonie“ zu nennen, jedoch ansonsten keinerlei Wert auf die damit üblicherweise verbundene formelle Anlage eines Stücks zu legen, hat gerade mit den auf dieser CD eingespielten „Sinfonien“ Nr. 3 und 4 zwei echte Meisterwerke vorgelegt. Insbesondere Nr. 3 aus den Jahren 1944/-45 mit dem Untertitel „delle campane“, also deutsch übersetzt in etwa „von den Glocken“, ist ein ganz starkes Werk. Glockenimitationen ziehen sich durch alle vier Sätze und begleiten das rund 23-minütige Werk, das sich in sehr persönlicher und introvertierter Art und Weise mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt, als immer wiederkehrendes Element. Wenn ich nach den fünf schönsten Sinfonien des 20. Jahrhunderts gefragt werden würde, wäre Malipieros „delle campane“ sicherlich dabei.

Die vierte Sinfonie „in memoriam“ aus dem Jahr 1946 ist dem Angedenken Natalie Koussevitzkys, der Ehefrau Sergej Koussevitzkys, gewidmet. Das Stück zeigt eine deutlich andere Tonsprache als noch die dritte Sinfonie – einfacher in der musikalischen Anlage, härter im Zugriff, expressiver im Grundtenor. Beide Sinfonien sind für großes Sinfonieorchester geschrieben, was man beileibe nicht von allen Sinfonien Malipieros behaupten kann. Ebenso verhält es sich mit der dritten hier eingespielten „Sinfonie“, einem Frühwerk aus dem Jahr 1906, der „Sinfonia del mare“. Hier regiert noch ganz die Spätromantik – und dies zugegebenermaßen nicht einmal drastisch originell, sodass die CD unter kompositorischen Gesichtspunkten vor allem wegen der Dritten und Vierten zu empfehlen wäre.
Zu empfehlen ist diese CD jedoch leider keineswegs, denn die kompositorischen Highlights wurden durch das Moskauer Sinfonieorchester vernichtet, zerstört, planiert und dem Erdboden gleichgemacht. Da Malipiero als Komponist zu Recht immer bekannter und populärer wird (das hat ja auch lange genug gedauert!), sollte sich doch eine Plattenfirma finden lassen, die eine Neueinspielung von Malipieros Sinfonien vornehmen kann. Mir würden da am Ehesten cpo einfallen, die ja erst im letzten Jahr eine hervorragende Gesamteinspielung der Klavierkonzerte des Italieners auf 2 CDs herausgebracht haben. Nun noch die Sinfonien bitte, und man könnte die ärgerlichen CDs aus dem Hause Marco Polo/Naxos endlich ersetzen.

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