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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Der Transzendentalist – Teil 2

Was Skrjabin mit Feldman gemeinsam hat, und warum YouTube die Klassik demokratisieren könnte

von Rainer Aschemeier  •  15. Juli 2014


Foto: ⓒMichelle Blioux

In Teil 2 unseres Interviews mit dem Pianisten Ivan Ilić geht es um spannende und überraschende Verbindungen zwischen der Musik von Morton Feldman und Alexander Skrjabin und um die Frage, wozu ein Künstler heutzutage noch ein Plattenlabel braucht, um erfolgreich zu sein.

Herr Ilić, Sie haben Musik von Skrjabin kombiniert mit der Musik der US-amerikanischen Moderne, wie zum Beispiel Morton Feldman und John Cage. Wie kamen Sie zu diesem Kontext?

Ich kam auf eine historische Verbindung: Morton Feldmans Familie waren Juden aus der Ukraine, die einige Generationen vor Feldmans Geburt in die USA emigriert waren. Das müsste so etwa zu der Zeit gewesen sein, als Skrjabin lebte. Feldmans erster Musiklehrer war ein Freund Skrjabins, und so kam Feldman schon früh in Kontakt mit Skrjabins Kompositionen und Essays. Feldman sagte sogar einmal, seine frühesten Kompositionen erinnerten ihn selbst an Skrjabins Musik. Ich fand das faszinierend! Das ist ja eine Verbindung, der bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ich fand, da böte sich ein großes Potenzial, um eine solche Verbindung nicht nur historisch darzustellen, sondern sie auch irgendwie hörbar zu machen. Ich fand dann heraus, dass ein Teil von Skrjabins Musik tatsächlich Ähnlichkeiten zum Stil Morton Feldmans aufwies. Ich suchte dann nach anderen Stücken, die zu dem Programm passten. Das erwies sich als sehr schwierig. Ich fand dann einige Stücke von John Cage, die Cage schrieb, kurz bevor er Morton Feldman kennenlernte. Und die erinnerten mich erstaunlicherweise sehr an den Stil, den Feldman erst in seinen letzten Lebensjahren entwickelte. Ich bin sicher, da gibt es irgendeine Verbindung. Zum Schluss kam ich dann auf das Stück von Scott Wollschleger. Ich wollte herausfinden, ob heute noch jemand Musik schreibt, die eine direkte Verbindung zu Feldmans Musik repräsentiert. Das war schwierig zu finden. Doch dieses Stück ist in meinen Augen das perfekte Ergebnis für meine Suche.

Nun war Skrjabin ja jemand, der Musik als etwas gesehen hat, das Teil von etwas viel Größerem sein sollte. Er nannte es unscharf das „Mysterium“. Sind wir heute zu nachlässig gegenüber Skrjabin, wenn wir uns nur auf das konzentrieren, was in den Noten steht?

Skrjabin ist ein schwieriger Fall. Ich glaube, einer der Gründe, warum dieser Komponist bislang noch nicht mit dem nötigen Respekt behandelt wurde, ist, dass er so ein merkwürdiger Mann war. Es gibt Fälle, bei denen kann eine gewisse Merkwürdigkeit durchaus von Vorteil sein – nehmen wir als Beispiel mal Beethoven. Forscher lieben gewisse Schrulligkeiten, weil sie eine Person interessant machen. Doch Skrjabin ging so weit, er war so extrem. Es gibt ja diese Gedichte von ihm, und in einem dieser Gedichte, das wohl auch das berühmteste ist, sagt er buchstäblich: „Ich bin Gott!“. Er war besessen von sich selbst. Ich will jetzt keine billige Psychoanalyse betreiben, aber es ist doch auffällig, dass Skrjabin nie zur Schule gegangen ist, dass er aus einer militärischen Familie kam, dass er ausschließlich von Frauen aufgezogen wurde, die ihm von Kindesbeinen an eintrichterten, er sei ein Genie. Musikwissenschaftlern, die selbst häufig eher ruhige, rationale Typen sind, fällt es schwer, so jemanden ernst zu nehmen. Es gibt da einen kulturellen Widerspruch zwischen der Art von Charakter, wie ihn Skrjabin hatte, und dem Charakter von denen, die ihn studieren. Ich weiß ja nicht, wie die Lage in Deutschland ist, aber in englischer Sprache gibt es nur eine einzige verlagsmäßig veröffentlichte Biografie über Skrjabin. Und die ist so um die 40 Jahre alt. Das ist doch schockierend! Das ist doch ein wichtiger, wichtiger Komponist! Ich würde sagen, dieser ganze persönliche Aspekt ist viel wichtiger als zum Beispiel die eklatante Virtuosität, wenn man Skrjabins Musik verstehen will. Doch natürlich ist das erste, was man hört, wenn man sich mit Skrjabins Musik befasst, dieses… tja, nennen wir es einmal, dieses Gefühlsbasierte: Viele, viele Noten, es ist nie ganz klar, wohin sich seine Stücke entwickeln, kurz: für Leute, die nicht so richtig zuhören, klingt das fast wie eine Improvisation. Und letztendlich gibt es da noch ein Problem, das ich für eines der interessantesten überhaupt halte: Bestimmte Komponisten sprechen eine bestimmte Art Interpret an. Leute wie Rachmaninoff zum Beispiel sprechen mit ihrer Musik einen Typus Interpret an, der es nun einmal liebt, virtuos zu sein und viele Noten zu spielen. Bei Liszt ist es genauso. Nun sind aber die Pianisten, die gerne viele Noten schnell spielen, oft nicht wirklich gute Musiker. Und wenn nun diese Musiker ständig Liszt und Rachmaninoff spielen, denkt jeder, Liszt und Rachmaninoff hätten miserable Musik geschrieben. Bei Haydn oder Beethoven ist das anders. Da sind die Interpreten oft sehr ernsthafte, detailverliebte Typen, die nicht selten auch etwas reservierter sind. Auch das färbt dann auf die Musik ab. Bei Skrjabin kommt dieses Phänomen auch zum Ausdruck: Hören Sie sich nur einmal ein paar Skrjabin-Gesamtaufnahmen an. Da sind viele so grässlich schlecht! Ich habe im Vorfeld mal etwas recherchiert, und das Stück „Reverie“, das ich auf dem Album habe, ist vormals nur ein oder zweimal aufgenommen worden – und wie mies! Wenn Sie das hören, dann denken Sie wirklich, dass das Stück selbst schlecht ist.

Wie stehen Sie eigentlich zu dem Phänomen der Synästhesie, denn Skrjabin soll ja Synästhet gewesen sein und hat angeblich Farben gesehen, wenn er Musik spielte. Trug das vielleicht mit dazu bei, dass er so neuartige Musik komponierte, die über die Grenzen des damals Üblichen hinauswies?

Ich habe mir einige Studien zu diesem Thema angesehen. Menschen, die sagen, Sie sähen eine Farbe in Entsprechung zu einer bestimmten Tonstufe, ändern ihre Meinung im Laufe der Zeit. (Das heißt, ein- und derselbe Ton wird von diesen Menschen zum Beispiel rot gesehen, und wenn man sie dann einige Zeit später wieder befragt, wird der Ton in einer anderen Farbe wahrgenommen. Anm. d. Verf.) Mich verleitet das zu der Annahme, dass Synästhesie eine irrationale Komponente hat. Doch dieses Irrationale ist ein wichtiger Teil der Kunst. Typen wie Skrjabin, die Irrationalität akzeptieren können, sind oft in der Lage, weiter zu gehen als der Rest. Ein anderes Beispiel ist Schumann, der später geistig umnachtet war. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen von Künstlern, die Schwierigkeiten mit der mentalen Ausgeglichenheit hatten, wenn man das so sagen kann. Und Skrjabin ist auf jeden Fall eines von den besonders auffälligen Beispielen (lacht). Doch gerade diese Manie erlaubte es ihm vielleicht, so rasend schnelle Fortschritte zu machen. Er ist ein unglaublich interessantes Studienobjekt. Er ist auf den ersten Blick ein ähnlich gelagerter Fall wie etwa Schubert: Er komponierte sehr viel Musik in sehr kurzer Lebenszeit.

Doch im Gegensatz zu Schubert, dessen Musik über die Jahre zumindest von grundlegender Ähnlichkeit blieb, veränderte sich Skrjabins Musik im Laufe von etwa 20 Jahren sehr stark. Nun muss man sich fragen: Was geht mich das an? Ich selbst würde mich nicht als Irrational bezeichnen. Aber ich akzeptiere, dass es einen Teil des Lebens gibt, der irrational ist. Und mich interessieren deswegen Leute, die Visionen hatten, während sie komponierten, die Farben sehen, wenn sie Musik hören oder die so verrückte Ideen haben, dass ein bestimmtes Stück für eine Aufführung im Himalayagebirge komponiert werden sollte. Wenn Menschen in der Lage sind, sich solche Sachen auszudenken, dann ist das für mich der Nachweis für ein höheres Maß an Kreativität.

Wechseln wir noch einmal das Thema: In der Vergangenheit haben Sie viele Ihrer bisherigen Alben in Eigenregie veröffentlicht. Seit einiger Zeit arbeiten Sie mit Labels zusammen, und bei Ihrem jüngsten Werk war es das für seine kreativen Veröffentlichungen bekannte Label Heresy. Was sind für Sie, der beide Seiten kennt, die Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit mit einer Plattenfirma? Dies zumal in der heutigen Zeit, wo ja jeder mit wenig Aufwand eine Selbstvermarktung aufziehen kann…

Der erste Unterschied ist ganz naheliegend: Wenn ich mit jemand anderem zusammenarbeite, sind mehr als eine Person an einer Produktion beteiligt. Es entsteht eine Gruppenatmosphäre und auch ein gemeinsames Engagement, was ich wundervoll finde. Es gibt auch ganz praktische Gründe. Sie können Ihre CDs selbst verlegen und vertreiben oder in Onlinestores Downloads verkaufen, doch es wird schwierig sein, dass darüber jemand berichtet, zum Beispiel Journalisten. Auch Käufer zu finden, ist dann nicht gerade leicht. Okay, das ändert sich gerade rasant. Jedes Jahr ändert sich etwas. Man braucht nicht mehr unbedingt Geschäfte, um CDs zu verkaufen. Ich habe zum Beispiel Aufnahmen, die ich schon 2003 über iTunes angeboten habe, und die verkaufen sich noch immer gut. Aber sehen Sie: Ich bin heute 35 Jahre alt. Jemand, der 25 ist, wird eine komplett andere Karriere haben, und jemand der 15 ist, noch viel mehr. Downloads werden vielleicht schon nicht mehr existieren, wenn diese jungen Musiker ihre eigentliche Karriere erleben werden. Und soll ich Ihnen was sagen: Ich mag das irgendwie. Wenn ich etwa bei youtube ein bestimmtes Musikstück suche, bekomme ich als Top-Suchergebnis vielleicht eine Interpretation eines superberühmten Musikers, und das Suchergebnis etwas weiter unten ist eine Aufnahme eines Amateurs, der das selbe Stück auf dem Klavier in seinem Schlafzimmer gespielt hat oder der seinen Vortrag mit seinem Smartphone auf dem Konzertflügel in seinem Konservatorium mitgeschnitten hat. Und es passiert nicht selten, dass diese Versionen besser sind, als die Aufnahmen der etablierten Künstler. Also, ich finde das wundervoll! Ich habe auf diese Weise wundervolle Künstler entdeckt. In punkto Audioaufnahmen sind wir noch nicht so weit. Bislang gibt es noch keine Art youtube nur für Soundaufnahmen, also etwas, wo alles Etablierte da ist und jeder andere noch seinen Teil dazu tun kann. Genau das würde ich mir aber wünschen, einfach so als eine Art „Qualitätsfilter“. Ich glaube also, dass es noch immer von Vorteil ist, mit einer Plattenfirma verbandelt zu sein, doch diese Vorteile schwinden langsam – von Jahr zu Jahr ein wenig mehr. Es gibt ja immer weniger Business rund um Tonaufnahmen, und das führt dazu, dass immer weniger Leute in diesem Business arbeiten. Ich persönlich glaube, dass das auf diese Weise nur interessanter werden wird. Auf diese Weise wird meine CD „The Transcendentalist“ zu einem kulturellen Artefakt aus dem Jahr 2014. Ich hätte dieses Album 2004 oder 1994 so nicht gemacht. Es ist eine Reaktion darauf, dass Tonaufnahmen heute weniger ein kommerzielles Produkt sind. Wie zum Beispiel ein Staubsauger – also etwas, das man braucht, und das man sich dann kauft. Tonaufnahmen werden auf diese Weise eher zu Kunstwerken, wenn man so will. Was ich sagen will: Früher haben wir Aufnahmen benötigt, damit wir uns ein Stück überhaupt anhören konnten, um eine Art Dokument zu haben. Nach dem Motto: Dies ist das Stück, und so hört es sich an. Im Jahr 2014 hat sich das geändert. Ein Album ist heute eher ein schönes Objekt. Der Zweck hat sich geändert. Es geht heute mehr um Emotion und Ästhetik, weniger um das, was man Tondokumente nennt.

Bei Heresy achtet man ja sehr auf die Verknüpfung zwischen musikalischen Inhalten und der grafischen Präsentation. Das kann dann auch schon mal provokativ oder abgedreht ausfallen. Kamen Sie damit sofort klar oder mussten Sie sich erst in die merkwürdige Welt dieses etwas speziellen Plattenlabels einfinden?

Das ist der eigentliche Grund, warum ich auf sie aufmerksam wurde. Anfangs war es sogar der einzige Grund, um ehrlich zu sein. Ich war in Wien unterwegs und habe da diese verrückten Coverartworks der Heresy-Platten gesehen. Das hat mich sofort in den Bann gezogen, denn diese Covergestaltungen erfüllten nicht nur einen grafischen Zweck oder dienten als Eyecatcher, sondern sie hatten tatsächlich eine Aussage. Ich fand auch, dass sie ausstrahlten, dass dort Leute arbeiten, die sich wirklich intensiv um ihre Veröffentlichungen kümmern. Bei alledem vermitteln die Heresy-Coverdarstellungen nie den Eindruck des Dogmatischen, sie wollen Dich nie von irgendetwas überzeugen. Musik ist ja keine Wissenschaft, wir können nichts beweisen. Jedesmal auf’s Neue ist eine Interpretation ein Experiment und kann für jeden etwas anderes bedeuten.

_——— CD-Details:

Ivan Ilic The Transcendentalist Label: Heresy Katalog-Nr.: Heresy 015 / EAN: 5060268640443

Tracklist

01 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 16 no. 1 in B major 2:48
02 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 11 no. 21 in B-flat major 1:17
03 – John Cage – Dream (1948) 9:03
04 – Alexander Scriabin – Guirlandes, Opus 73 no. 1 4:15
05 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 31 no. 1 in D-flat major 2:28
06 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 39 no. 3 in G major 1:23
07 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 15 no. 4 in E major 1:11
08 – Scott Wollschleger (b. 1980) – Music Without Metaphor (2013) 6:50
09 – Alexander Scriabin – Rêverie, Opus 49 no. 3 1:10
10 – Alexander Scriabin – Poème languide, Opus 52 no. 3 1:36
11 – John Cage – In a Landscape (1948) 9:30
12 – Morton Feldman – Palais de Mari (1986) 22:37
Total Time 64:08

Executive Producer & Art Director: Eric Fraad
Session Producer and Recording Engineer: Judith Carpentier-Dupont
Digital Editing: Ivan Ilić
Mastering Engineer: James Durkin

Recorded September and November 2013, at the Salle Cortot, Paris
Steinway Model D piano tuned by Kazuto Osato and Franck Terreaux

Photography: Laelia Milleri
Graphic Design: Gareth Jones_

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