Der Transzendentalist – Teil 1Bei the-listener.de redet der abenteuerlustige Pianist Ivan Ilic über sein neues Album mit Musik von Skrjabin, Cage, Feldman und Wollschleger. Ein Interview in zwei Teilen...von Rainer Aschemeier • 9. Juli 2014 Ivan Ilić wurde in Serbien geboren, hat einen US-amerikanischen Pass und lebt in Paris. Ähnlich kunterbunt scheint es auf seinem aktuellen Album zuzugehen: Der Pianist kombiniert Musik Skrjabins mit Feldman, Cage und dem hierzulande praktisch unbekannten US-Komponisten Scott Wollschleger. Wie das alles zusammenhängt und warum die moderne Klavierwettbewerbstradition seiner Meinung nach bald am Ende ist, erläuterte Ilić im Exklusivinterview für the-listener.de. Wir veröffentlichen das Gespräch in zwei Teilen. Heute erscheint der erste Teil, der zweite folgt in Kürze. the-listener.de: Herr Ilić, Ihr neues Album trägt den Titel „The Transcendentalist“. Vor einigen Jahren haben Sie schon einmal ein Album aufgenommen, und das hieß „Transcendental“. Was fasziniert Sie eigentlich so an der Idee der Transzendentalität? Ivan Ilic: Die Wortbedeutung von Transzendentalität ist in den einzelnen Sprachen immer etwas verschiedenartig. Eine Gemeinsamkeit aber gibt es immer: Es geht ganz grundsätzlich immer um die Idee, über etwas hinauszugehen. Ich mag es, über die Grundbedeutung von Wörtern nachzudenken und diese dann kritisch zu hinterfragen. In der Musik verbindet man Transzendentalität ja zum Beispiel meistens mit Virtuosität. Und Virtuosität erzeugt beim Publikum in der Regel Emotionen wie Spannung oder eine Art innerer Aufgewühltheit. Ich habe mich in den letzten Jahren, als ich über Transzendentalität nachdachte, ganz bewusst mit dem Gegenteil davon beschäftigt. Denn der Begriff meint ja auch, dass man Zugang zu etwas „Höherem“ erlangt, jedoch nicht notwendigerweise als Resultat irgendwelcher physischer Anstrengungen, sondern eher im Sinne einer Art „Erleuchtung“. So wie die meisten Menschen eine ausbalancierte, ausgewogene Ernährung anstreben, bei der sich Dinge wie Proteine, Kohlenhydrate oder Gemüse die Waage halten, muss man auch als Musiker sein tägliches Leben überdenken. Es gibt ja Musiker, die sind besonders gut in einer bestimmten Kategorie, z.B. eben so etwas wie Virtuosität. Mit dieser einen einzigen Qualität kann man tatsächlich eine ganze Karriere bestreiten. Das ist ja auch gut, z.B. für das Marketing, weil man ganz genau benennen kann, was genau diesen oder jenen Künstler besonders macht. Ich hingegen finde es interessanter, wenn man viele Facetten einer Sache hinterfragt. Und das bringt dann mit sich, dass man die Bedeutung eines Begriffs wie „Transzendentalität“ heute so sieht, und in fünf Jahren sehe ich das vielleicht ganz anders.Wenn man sich über „Transzendentalität“ in der Klaviermusik unterhält, hat ja jeder sofort die „Etudes d’execution transcendante“ von Franz Liszt im Kopf. Ihr früherer Lehrer François-René Duchâble hat eine berühmte Einspielung dieser Stücke unternommen. Hat er Sie auch mit dem Thema Transzendentalität in Berührung gebracht? Nein, das hat er nicht. Aber meine Zeit bei ihm war sehr wichtig, vor allem in Bezug auf die Spieltechnik. Das war wirklich sehr interessant, die Herangehensweise dieses Pianisten zu sehen, der ja eine so unglaublich gute Spieltechnik hat. Seine Art, an Fragen der Spieltechnik heranzugehen, hat mich sehr an meine Zeit erinnert, als ich als Jugendlicher Karateunterricht hatte. In der Kampfkunst geht es darum, ganz grundlegende Bewegungen immer wieder zu verinnerlichen, sodass man sie zum Schluss absolut meisterhaft beherrscht. Und dann sieht man François-René Duchâble: Man sieht, wie viele schnelle Noten er pro Minute hervorbringt und welche unglaublichen Kunstfertigkeiten er beherrscht. Und dann ist man überrascht, wie dieser Mann übt: Er beschränkt sich beim Studium neuer Werke nämlich auf ganz wenige Dinge, widmet sich diesen aber mit großer Hingabe. Diese Erkenntnis war sehr wichtig für mich: Zu sehen, dass er die Bescheidenheit hat, sich ganz einfachen Dingen intensiv zu widmen, und dass dies sein Weg war, um diese großartige Technik zu entwickeln, die er beherrscht. Und das wirft ja ein ganz interessantes Licht auf das, was wir eben zum Thema Transzendentalität besprochen haben. Was streben zum Beispiel Buddhisten an? Ein Anspruch von Ihnen ist, sich an einem Platz aufzuhalten, bewusst zu atmen, und durch diese Tätigkeit eins mit der Welt zu sein. Wenn Sie darüber nachdenken, ist der Beginn dieser Tätigkeit ja nicht, die Welt in all ihrer Großartigkeit zu erfahren, sondern vielmehr allein mit sich selbst zu sein, sich zu konzentrieren und auf sich selbst zu hören. Eigentlich also etwas ganz einfaches. Kürzlich erst habe ich die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini getroffen, die eine begeisterte Kampfsportlerin ist und dieses Element als eminent wichtig auch für ihre Karriere als Pianistin einstuft. Wie wichtig ist es für einen Musiker, etwas zu finden, dass einen über die Musik hinaus denken lässt? Ich halte das für einen Aspekt, der viel breiter wahrgenommen werden sollte. Es gibt viele Beispiele großartiger Musiker und hochklassiger Virtuosen, die uns zeigen: Musik ist nicht genug! Wir brauchen mehr Nahrung für unseren Geist. Das Einüben eines Musikstücks oder sogar das Komponieren eines Musikstücks reicht nicht aus, um alle Talente und Aspekte unseres menschlichen Geistes zu nutzen. Für mich gibt es gar keinen Zweifel daran, dass ich die eigentlich interessanten Ideen außerhalb der Musik finde. Ich kann sie dann aber metaphorisch und philosophisch auf meine musikalische Beschäftigung übertragen. Mir hilft das zu einem viel tiefer gehenden Verständnis. Ich beschäftige mich derzeit zum Beispiel mit Fragen der Ästhetik und auch der visuellen Wahrnehmung. Ich finde, dass ich dadurch einen viel tieferen Einblick erlange, als wenn ich mich stattdessen mit einer Biografie eines Komponisten beschäftigen würde. Und wenn man von dieser Warte aus auf unsere moderne Musikwissenschaft blickt, stellt man fest, wie limitiert es da zugeht. Musikwissenschaft sollte eigentlich die Avantgarde des Denkens über Musik repräsentieren, stattdessen sehen wir, dass die Musikwissenschaft in der Freiheit des Denkens anderen Disziplinen weit hinterher hinkt. Ich weiß, dass es viele Musiker gibt, die sich am liebsten einreden wollen, dass sie sich ganz und gar der Musik widmen könnten. Das Problem ist nur, dass das einfach nicht stimmt (lacht). Die Art und Weise, wie wir Musik wahrnehmen, hängt von so vielen Dingen ab, zum Beispiel vom Kontext, in dem wir die Musik hören, was wir über den Interpreten wissen oder über den Komponisten. Diese Dinge kann man unmöglich ignorieren, selbst wenn man es wollte. Die Musik funktioniert in unserer Gesellschaft nicht über Blindtests wie bei Weinproben, wo man mit verbundenen Augen die Provenienz eines Weins feststellen soll, wer ihn hergestellt hat, in welchem Boden er gewachsen ist, wie alt er sein könnte und von welcher Rebsorte er stammt. Ich finde es interessant, dass so etwas fast nie bei Musik gemacht wird. Immer wissen wir, wer der Komponist war, wir wissen um dessen Lebensumstände zum Zeitpunkt der Komposition. Deswegen veranstalte ich manchmal Konzerte ohne Programm, und ich finde es interessant zu beobachten, dass das Publikum oft richtiggehend zornig wird, weil es kein Programm gibt. Die Vorstellung, einfach da zu sitzen und Musik zu hören, ohne vorher zu wissen, was man da eigentlich hört, bereitet erstaunlich vielen Menschen ein Gefühl der Unbehaglichkeit. Das sagt viel über Musik aus, nicht?In meinen Augen sagt das vor allem viel über unsere gesellschaftlichen Kommoditäten aus. Ich frage mich zum Beispiel, wo junge Musiker die Zeit hernehmen sollen, um sich mit anderen Dingen als Musik zu beschäftigen, wo sie doch heute von Wettbewerb zu Wettbewerb hetzen müssen. Wie kann man sich mit anderen Dingen beschäftigen als mit Spieltechnik, Kompositionsfragen oder auch der Frage, wie man es anstellt, die Jury von der eigenen Klasse zu überzeugen? Das stimmt. Doch diese Tradition wird sich ändern. Der Grund, warum junge Pianisten heute bei Wettbewerben mitmachen ist ja, dass die großen Legenden der Klaviermusik – sagen wir: Radu Lupu, Martha Argerich oder Vladimir Ashkenazy – nun einmal die bei Weitem erfolgreichsten sind. Ob man das mag oder nicht. Es ist so. Junge Pianisten denken nun: Wenn ich einmal so erfolgreich sein will wie Radu Lupu, muss ich auch einen Wettbewerb gewinnen. Das Problem ist nur: Die Welt hat sich verändert. Heute gibt es viel, viel mehr Wettbewerbe als vor 50 Jahren, sie sind gleichzeitig immer unbedeutender geworden, spieltechnisch hingegen viel schwieriger. Viele der legendären Pianisten, die ich eben nannte, würden heutzutage nicht einmal mehr in ein Finale eines Wettbewerbs kommen, denn die technischen Standards sind heute viel höher. Es muss also Vorbilder geben, die eine neue Art aufzeigen, sich zu bewähren. Es muss eine neue Art Interpret geben, die zeigt, dass es sinnvoll ist, sich auf andere Weise der Musik zu nähern. Und ich glaube, dass diese Bewegung schon in vollem Gange ist. Nun ja, aber die Gesellschaft funktioniert doch ganz anders. Gerade das moderne Publikum, das nicht mehr klassisch „bildungsbürgerliche“, möchte für alles am liebsten ein Qualitätssiegel bekommen, um auch in der Musik „garantierte Qualität“ zu erhalten. Außerdem wird klassische Musik nach wie vor als ein Phänomen der Eliten wahrgenommen, was erklären könnte, warum Ihr Publikum sich nicht wohl fühlt, wenn es bei Konzerten kein Konzertprogramm in die Hand gedrückt bekommt. Man redet eben in der Konzertpause über das Konzert. Und jemand, der nicht weiß, was er gerade gehört hat, fühlt sich peinlich berührt wenn er dabei auf jemanden trifft, der ganz genau wusste, was der Pianist da eben gespielt hat. Man soll eben in einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse über klassische Musik Bescheid wissen, weil es zum sozialen Standard dazugehört. Was für ein interessantes Problem, nicht? Ich bin darauf durch einen Freund aufmerksam gemacht worden, der ein Geschäftsmann ist. Der sagte mir: „Wenn Du wissen willst, wie ein Business funktioniert, musst Du Dich mit der Frage beschäftigen, wie es begonnen hat.“ In anderen Worten: Beschäftigt man sich mit der Computerindustrie, hat man die Stories von Firmen im Kopf, die ihre ersten Produkte in Garagen erfunden haben. Das wird dann zur kulturellen Überlieferung dieses Businesszweigs. Und meistens kann man diese erste Gründungsidee bis heute in den entsprechenden Unternehmen wiederfinden. Noch immer beziehen sich diese Firmen auf diese kulturelle Identität. Schaut man mit diesem Blick auf die klassische Musik, fällt auf, dass auch sie so eine sehr spezifische kulturelle Überlieferung mit sich herumträgt. Wer hat die Werke geschrieben, wer hat für sie einstmals bezahlt und die Komposition angestoßen, in welchem historischen Kontext steht die Komposition eines Stücks? Wir können nun versuchen, die klassische Musik zu demokratisieren, doch diese kulturelle Identität, die mit ihr verbunden ist, wird nur sehr schwierig auszuräumen sein. Und ich weiß auch gar nicht, ob sie tatsächlich ausgeräumt werden sollte. Musik kann glücklicherweise auf vielen verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden. Und nun komme ich auf Ihre Frage zurück: Die Vorstellung, Information zu benötigen um Zugang zu etwas erhalten, ist erst einmal richtig. Doch heute haben wir so wahnsinnig viel Information… Also, ich meine: So ziemlich jeder in Europa hat ein Handy, mit dem er auch im Internet surfen kann. Jemand, der ins Konzert geht und nichts über die Musik weiß, kommt mit einem Klick zu massenhaft Informationen über den Komponisten, sagen wir zum Beispiel mal: über Szymanowsky. Suchen Sie zum Beispiel bei Wikipedia, und Sie erfahren alles mögliche über Szymanowsky. Aber das hilft Ihnen ja nicht weiter, wenn es darum geht, seine Musik zu verstehen. Sie können sich vielleicht besser mit der Musik anfreunden, wenn Sie wissen, dass Szymanowsky aus Polen kam, dass er selbst Pianist war, wenn Sie wissen, wer seine Freunde waren und all so etwas. Sie fühlen sich der Musik vielleicht sogar näher. Aber das bedeutet nicht, dass Sie seine Musik nun besser verstehen. Das ist ziemlich tricky, und wird meiner Meinung nach oft fehlgedeutet. Ich bin der Meinung: Wir haben heute sehr viel Information und sehr wenig Erkenntnis. Und bei vielen jungen Musikern ist es ähnlich: Viel Technik, wenig Durchblick. Das Niveau technischer Expertise heutzutage ist so unglaublich hoch. Bedenken Sie: Es gibt etliche Musiker, die heute Stücke in Perfektion spielen, die vor 100 Jahren noch als unspielbar galten. Neulich war ich bei einem Konzert des London Symphony Orchestra. Es gab „Le sacre du printemps“. Dieses Stück galt vor 100 Jahren als quasi unspielbar. Diese Musiker spielten das Stück, als wäre es das einfachste auf der Welt. Es klang so merkwürdig. Diese Musiker, zum Beispiel der Oboist, hatten dieses Stück ihr ganzes Leben lang gespielt. Sie sind damit aufgewachsen. Offen gesagt: Sie schienen mir beinahe gelangweilt zu sein. Was passiert aber mit einer Gesellschaft, in der so etwas zu beobachten ist? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass es inzwischen beinahe zu einem Problem wird, dass wir so viele Dinge heute so einfach finden. Tracklist 01 – Alexander Scriabin – Prelude, Opus 16 no. 1 in B major 2:48 Executive Producer & Art Director: Eric Fraad Recorded September and November 2013, at the Salle Cortot, Paris Photography: Laelia Milleri |
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