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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Die besondere CD: Erwin Schulhoff - Konzerte

Klingender Soundtrack der janusköpfigen 1920er-Jahre

von Rainer Aschemeier  •  17. Juni 2014

Über das tragische Leben des Komponisten Erwin Schulhoff haben wir schon so viel geschrieben (z.B. hier , hier oder hier), dass ich es mir diesmal erspare, eine biografische Einführung zu Schulhoffs Leben und Wirken zu geben. Über dieses Album gibt es auch ohnedies genug zu erzählen.

Vielleicht nur so viel: Schulhoff war einer der wenigen, die sogar Antonín Dvořák noch kennengelernt haben – also einen der wichtigsten Hauptvertreter der Hochromantik – und dann durch das Studium bei Max Reger diese romantischen Werte in eine moderne Richtung gewandelt sahen. Schulhoff nahm neben diesen Einflüssen auch Anleihen bei Strawinsky und sicher auch Bártok, um dann letztendlich aus dieser Melange zu einem schier unverwechselbaren Personalstil zu gelangen, dem charakteristischen „Schulhoff-Sound“, der stets irgendwo zwischen Spätromantik, Expressionismus, Unterhaltungsmusik und Neoklassik hin- und herzupendeln scheint und dennoch so konsistent und kompakt klingt, dass man kaum anders kann, als hierbei Genialität zu erkennen.

Während Schulhoffs Orchestrierung nicht immer in allen Bereichen überzeugen mag, war sein Gefühl für musikalische Form und melodische Empfindung absolut frappierend, und es ist einfach schön, dass in den letzten Jahren so viele Tonträger erschienen sind, die es dem Schulhoff-Freund heute leicht machen, sich einen Überblick über das Werk dieses immer noch eminent unterschätzten Komponisten zu verschaffen, der heute ein ähnliches Schicksal erfährt, wie der ebenfalls viel zu lange vergessene Schostakowitsch-Freund Mieczysław Weinberg. (Dabei sei wenigstens kurz erwähnt, dass das Label capriccio in den letzten Jahren immer mal wieder mit löblichen Beiträgen zur Schulhoff-Diskografie aufgefallen ist, etwa mit der Ersteinspielung zweier Schulhoff-Sinfonien durch das BR-Sinfonieorchester unter der Leitung James Conlons oder durch eine mehrteilige Serie mit Schulhoff-Streichquartettaufnahmen mit dem Petersen-Quartett).

Nun erscheint im Hause capriccio eine Gesamt-(?)-Einspielung der Konzerte Erwin Schulhoffs. Hierbei sticht vor allem das „Concerto Doppio“ für Flöte, Klavier, Streichorchester und zwei Hörner ins Auge, das in den letzten zwei Jahren zusammen mit dem hier vorzustellenden Album nun nicht weniger als dreimal in neuen Einspielungen vorgelegt wurde: vom English String Orchestra unter David Parry (2013), von der Academy of St. Martin-in-the-Fields unter Sir Neville Marriner (ebenfalls 2013) und nun erstmals von einem deutschen Orchester.
Hinzu kommt das nach meiner Kenntnis zurzeit einzige verfügbare Tondokument von Schulhoffs Klavierkonzert und das Konzert für Streichquartett und Bläserensemble. Als „Bonus“ gibt es noch eine launige Orchesterversion von Beethovens „Wut über den verlorenen Groschen“, die Schulhoff für den Rundfunk anfertigte und die eher den Schulhoff der Unterhaltungsmusik zeigt, als dass sie ein „ernstes“ Arrangement repräsentieren würde.

Die Musik dieser herrlichen CD überrascht mit wendiger Vielseitigkeit: Schulhoff outet sich im Klavierkonzert als veritabler Impressionist mit träumerischen Klaviergirlanden á la Ravel oder Debussy, während sich der dritte Satz mit seinem Titel „Allegro alla Jazz“ als knackige Auseinandersetzung mit damals gerade aktuellsten Musikstilen gebärdet und dabei eine seltsam orientalische Harmonik an den Tag legt, die manchmal eher wie eine Reflexion auf Rimskys „Sheherazade“ wirkt als eine Reflexion über den Jazz.
Eine Alarmsirene erklingt in diesem Stück übrigens auch – wie in so vielen Kompositionen dieser Zeit, von Satie bis hin zu Schostakowitsch. Es war eben eine „heiße“ Zeit, als dieses Konzert 1923 vom Stapel gelassen wurde.
Im Rückblick erscheint Schulhoffs merkwürdig janusköpfiges Konzert wie ein geheimer Prototyp für sowohl Gershwins „Rhapsody in Blue“ (1924) als auch für Maurice Ravels Klavierkonzert in G-Dur (ab 1929) – ohne, dass man annehmen darf, diese beiden Komponisten hätten ihren tschechisch-deutschen Kollegen etwa studiert.

Über das schöne „Concerto Doppio“ hatte ich an anderen Stellen schon geschrieben, und das Konzert für Streichquartett und Blechbläser rangiert ganz im Fahrwasser, das zuvor Paul Hindemith und Igor Strawinsky aufgewühlt hatten. Übrigens wird das Streichquartett in Schulhoffs Konzert eher wie ein kleines Streichorchester behandelt, die Einzelmusiker des Quartetts haben nur wenige Soloparts. Insgesamt ist somit auch dieses Konzert schon wieder so eine Schulhoff’sche Merkwürdigkeit, die übrigens live auf einer Orchesterbühne sicher nicht besonders gut funktioniert, da der Lautstärkeunterschied zwischen einem Blasorchester und einem Streichquartett doch eher drastisch sein dürfte. Die CD-Aufnahme hilft sich da mit einer offenkundigen Anhebung mancher Abschnitte des Streichquartettparts aus der Patsche.

Die Interpretationen durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (ehemals Radio-Symphonie-Orchester Berlin) unter der Leitung des ehemaligen Zagrosek-Assistenten Roland Kluttig sind sehr gelungen! Sie versprühen die vulkanische Aura der 20er-Jahre, dieser zwischen Hedonismus und Fatalität pendelnde Epoche, die in der totalen Katastrophe des Nationalsozialismus endete.

Hier hört man so viel: Hier hört man den damals brandneuen Jazz, hier hört man die tiefe Erdung auch dieser Komponistengeneration in der deutschen Romantik und hier hört man den Nachklang des gescheiterten Expressionismus der 1910er-Jahre. Schulhoffs Konzerte sind ein klingender Soundtrack dieser Epoche, die von „goldenen Zwanzigern“ bis hin zur Weltwirtschaftskrise, vom gesellschaftlichen Dauerorgasmus bis hin zu Massenselbstmorden auf zeitlich engstem Raum faktisch alles durchmessen hat.
Faszinierend!

Die Einspielungen wurden bereits 2007 vom Deutschlandradio in routiniert guter Radioqualität aufgezeichnet und klingen somit durchaus besser, als manch heutige Studioproduktion, die ohne Rundfunkbeteiligung durchgeführt wurde.

Gute Musik, gute Interpretation, guter Sound: Da heißt es „Zugreifen“!
——- CD-Details:

E. Schulhoff – Konzerte
Deutsches Radio-Symphonie-Orchester Berlin – Roland Kluttig
Solisten: Frank-Immo Zichner (Klavier), Jaques Zoon (Flöte), Leipziger Streichquartett
Label: capriccio / Vertrieb: Naxos
Katalog-Nr.: C5197 / EAN: 845221051970

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