Lebendige Musik, in klarer MannigfaltigkeitDie Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge XVIvon Christoph Schlüren • 5. März 2014 Immer wieder ist uns aufgefallen, dass der finnische Dirigent Sakari Oramo eine singuläre Fähigkeit und auch den unbedingten Willen hat, auch in sehr komplexen und teilweise nicht allzu durchsichtig instrumentierten Partituren ein Höchstmaß an Transparenz zu realisieren. Darüber hinaus ist er ein sehr schwungvoller Rhythmiker, der auch Schwerblütiges erstaunlich leicht klingen lassen kann. Oramo gebührt das herausragende musikgeschichtliche Verdienst, als Nachfolger Simon Rattles in Birmingham den bedeutendsten englischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, den nach wie vor fast völlig unbekannten John Foulds (1880-1939), erstmals breiterem Publikum vorzustellen und bei Warner Classics auf 2 CDs (die erst jüngst als Doppelpack wiederveröffentlicht wurden) Referenzeinspielungen einiger Hauptwerke von Foulds vorgelegt zu haben. Seit Birmingham sind Oramos weitere zentrale Stationen das Symphonieorchester des Finnischen Rundfunks in Helsinki und die Königliche Philharmonie in Stockholm. Außerdem übernahm er von Gründer Juha Kangas die Leitung des Ostrobothnian Chamber Orchestra, eines der feinsten Streichorchester weltweit, bei dem er seit Beginn seiner internationalen Karriere als erster Gastdirigent wirkte, und im vergangenen Herbst folgte er Jirí Belohlávek als Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra nach. 2013 nahm er überdies mit den Wiener Philharmonikern Symphonik von Dänemarks großem Altmeister Per Nørgård auf. Vor Anfragen der Spitzenorchester weltweit kann er sich heute kaum noch retten… Ich schreibe diese Zeilen auch deshalb, weil ich in einem stark frequentierten deutschen Klassik-Portal vor einigen Tagen eine unverschämt inkompetente Kritik über diese neue CD las. Nichts ist eben peinlicher und bornierter als das Festhalten an liebgewonnenen Gewohnheiten. Da wird Mangel an Kraftentfaltung bemängelt und Durchsichtigkeit zwar konzediert, jedoch behauptet der armselige Autor, die Verluste seien zu hoch… Das Problem ist eigentlich nur, dass er keine Ahnung von organisch prozessualer (also linearer) wie auch von orchestral akkordischer (also vertikaler) Struktur hat und überhaupt nicht versteht, worauf es bei der klingenden Umsetzung einer Partitur ankommt. Nielsens Orchestration ist kein Musterbeispiel an Balance, die anvisierten Klangmischungen sind oft sehr heterogen, der Satz klingt im Fortissimo dick und ungelenk statt klar und beweglich, die Oktavierungsverhältnisse im Orchester sind oft genug kontraproduktiv genutzt, indem Stimmen verdeckt anstatt verstärkt werden, usw. All das fordert umso mehr, dynamische Angaben relativ zu begreifen (die Idee, dynamische Angaben seien absolut zu verstehen, ist ein Irrtum, den die menschliche Wahrnehmung fortwährend widerlegt, der jedoch aufgrund der quantitativen Komponierweise der Serialisten in der Epoche des Kalten Kriegs Schule gemacht hat). Es fordert ständig, bei anwachsender Lautstärke ganz besondere Rücksicht auf schwächere Instrumentengruppen walten zu lassen, also die von Natur aus stärkeren zu mäßigen (eine grundsätzliche Notwendigkeit, die viel zu oft vergessen wird, da viele meinen, „Temperament“ sei die Hauptsache – und eben besonders gravierend in der Vernachlässigung bei instrumentatorisch nicht so naturbegabten und zugleich nonkonformistischen Komponisten, wie Schumann, Brahms, Nielsen, Rangström, Hindemith, Pettersson). Und das alles klingt einfach auch auf der Aufnahme viel besser, wenn bereits die reale Balance der Aufführung stimmig ist (denn es ist ein gravierender Unterschied, ob überdröhnte Holzbläser höher ausgepegelt werden, oder ob tatsächlich eine gehörte und empfundene Beziehung zwischen den unterschiedlichen Orchestergruppen herausgearbeitet wurde). Ich kann nur konstatieren, dass Nielsens Vierte Symphonie, die ‚Unauslöschliche’, in ihrer gigantischen Spreng- und Spannkraft unter Oramo vom vorzüglichen Stockholmer Philharmonischen Orchester mit einer lebenssprühenden Schlüssigkeit und erlesenen Finesse dargeboten wird, wie wir es noch nie via Tonträger erleben durften. Vielleicht ist diese Symphonie letztlich doch Nielsens bedeutendste Schöpfung, jedenfalls seine bezwingendste, kompaktest gebaute in der großen Form, und Oramo und seine hingebungsvoll beteiligten Musiker schaffen nicht nur so etwas wie einen die gesamte Entwicklung von vier zwingend miteinander verbundenen Sätzen umspannenden Bogen, sie lassen uns auch die Faktur entgegenscheinen, wie dies bisher nicht zu bekommen war. Dass gelegentlich einmal ein Decrescendo ein bisschen früher einsetzt, vielleicht auch ein bisschen tiefer führt als unbedingt nötig, ist von so gut wie keinem Belang, wenn wir wahrnehmen, was uns in fast jedem Moment an sinnlich sich entfaltender Mannigfaltigkeit der Bezüge und Einheitlichkeit des charakteristischen Ausdrucks geschenkt wird. Auch ist sehr erstaunlich, welche Kantabilität der Phrasierung phasenweise auch in schnellen Tempi im doch sehr kantigen Tuttisatz erreicht wird. Die Fünfte Symphonie ist zwar noch kühner komponiert, jedoch zugleich auch formal nicht so bezwingend. In ihr kommt der orientalische Melodiker der Aladdin-Schauspielmusik, der dem Komponisten innewohnt, ebenso zu seinem Recht, wie man mit Fug und Recht sagen kann, dass hier Anfang der zwanziger Jahre ein eindeutiger Vorbote der Minimal Music vorliegt. Was die Dechiffrierung der Partitur, also die angemessene Ausbalancierung der Orchestration betrifft, sind die Schwierigkeiten (und gelegentlich Unmöglichkeiten) noch extremer als bei der sechs Jahre zuvor vollendeten Vierten Symphonie. Auch hier erreicht Oramo ein frappierendes Optimum an Klarheit, ohne wirklich an Wucht und Markigkeit einzubüßen. Man muss einfach nur anfangen, zu verstehen, was nötig ist für eine kultivierte, strukturierte Darbietung, die ja deswegen noch nicht im Geringsten domestiziert wirken muss – im Gegenteil, wenn der nach Knalleffekt und Klangchaos süchtig gewordene Nielsen-Fan erst einmal offenen Ohres kapiert, wie viel mehr es auf einmal zu hören gibt, wie viel klarer und folgerichtiger die Bezüge entstehen, dann kann das geschehen, was meines Erachtens eine wirkliche Gnade in der Musik ist: Es entfaltet eine spontane Macht, als geschähe es zum ersten Mal. Und das so entfachte Abenteuer steht in absoluter Übereinstimmung mit Nielsens Maxime, dass Musik stets vor allem eines zu sein habe: lebendig! Übrigens, auch hier heißt Manifestation der musikalischen Struktur und ihrer energetischen Wahrheit nicht, blind dem Buchstaben der Partitur zu folgen. Am auffälligsten ist dies sicher im mächtigen zweiten Satz der Fünften Symphonie, wo Oramo die Einwürfe der Bassstimme von der Pauke stützen lässt, wie dies in der von Emil Telmányi und Erik Tuxen verantworteten Erstausgabe der Partitur der Fall war – gerade im Falle Nielsen empfiehlt es sich eben unbedingt, nicht unkritisch der neuen Gesamtausgabe zu folgen, sondern genau zu prüfen, wo die ältere Ausgabe eine geeignetere Lösung bereitstellte, um den Tonsatz klar, wirkungsvoll und adäquat zum Klingen zu bringen. Nur dogmatische Idioten, deren es natürlich zur Genüge gibt, müssen hierin grundsätzlich einen Mangel an Pietät diagnostizieren. Und so kommt es, wie es kommen musste bei so viel geballter Kompetenz, Sorgfalt, Intensität (die nicht in Dezibel zu messen ist) und bewusster Hingabe: Auch die Fünfte ist eine Referenzeinspielung geworden, und wir warten nun hoffentlich nicht umsonst darauf, zu hören, wie Oramo sein schwedisches Orchester durch die anderen Nielsen-Partituren navigiert. BIS SACD 2028 (Vertrieb: Klassik Center Kassel) |
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