Anders Eliassons letzte Komposition wurde in München aufgeführt
von Ulrich Hermann • 18. Februar 2014
Das Programm stellte Werke von Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Anders Eliasson (1947-2013) unmittelbar gegenüber. Vor der Pause – nach einer kurzen Einführung über das, was die beiden doch so weit „entfernten“ Komponisten miteinander verbindet: der nie nachlassende Fluss und musikalische Flug in ihren Werken – präsentierte jede der drei Damen Solistisches:
Zu Beginn spielte die Kanadierin Shasta Ellenbogen die berühmte Violin-Chaconne auf ihrer Viola, nach g-moll transponiert und mit verblüffender Selbstverständlichkeit. Von Anfang an betörte der spezifische Klang und die enorme fließende Energie und träumerische Farbigkeit, mit der sie dieses „Thema con variazioni“ ertönen ließ. Das Stück „In medias“ von Anders Eliasson für Violine solo von 1971 – es bedeutete damals den Durchbruch für Eliasson zu seiner ganz eigentlichen Musik-Sprache – stellt nicht nur die Geigerin Rebekka Hartmann, auch die Zuhörer auf eine spannende Probe, die aber ohne Probleme Ohren, Herz und Gemüter erreichte. Auch dieses einzigartige stück, das sich wundersam mit Bach verbindet, wurde mit vollendeter Meisterschaft vorgetragen – und es ist wahrlich eine immense technische und gestalterische Herausforderung. Die berühmte, in der erratischen Melodieführung weit in Bereiche der freien Tonalität vorspürende Sarabande aus der 5. Cello-Suite in c-moll von Bach wurde von Mareike Kirchner mit verhaltener, völlig unprätentiöser Innigkeit dargebracht. Es ist immer wieder erstaunlich, wie mit ein paar wenigen Noten diese hinreißende Klangrede entstehen kann. (Der britische Komponist Robert Simpson schrieb über dieses Sarabanden-Thema einen späten, dissonant freitonalen Variationszyklus mit Fuge für Streichorchester). Zum Abschluss des ersten Teiles erklang noch einmal Bachs Chaconne aus der Partita in d-moll, diesmal in der Original-Fassung für Violine. Rebekka Hartmann und ihre Stradivari zusammen mit der berückenden Polyphonie der Chaconne: Welch ein absolut bezwingendes Erlebnis! Man konnte wirklich vermeinen, den gigantischen Bau mit solcher Intensität und Hingabe zum ersten Mal zu hören.
Nach der Pause dann ein mehr als bemerkenswertes Werk: das Streichtrio „Ahnungen“ von 2012, Anders Eliassons letzte Komposition, vielleicht am passendsten zu beschreiben als eine hochverdichtete Symphonie in einem Satz für drei Solisten, und bei aller wild lodernden Exprssivität im Abstraktionsgrad Bachs kontrapunktischen Spätwerken zu vergleichen. Zur Einstimmung kamen einige Sätze aus einem letzten Telefon-Gespräch mit Eliasson, wenige Tage, bevor er an den Folgen seiner Krebsbehandlung starb, vor:
„Letzten Endes sind wir alle eine Identität. Die Menschheit. Ich, dieser Mensch. Dass ich zu dir spreche, denke ich. Erst wenn ich mit mir dessen eins bin, dass ich immerzu mit mir gesprochen habe, kann ich in mir vielleicht die Trennung transzendieren. Das kann, und daran wollen wir alle anscheinend nicht glauben, Unvorstellbares in uns allen auslösen…“
Was dann erklang und Wirklichkeit wurde, gehört einer anderen musikalischen Sphäre an als der, die wir Zuhörer „normalerweise“ gewohnt sind zu hören. Dass in einer dreistimmigen polyphonen Musik die Töne eine „passende“ Verbindung eingehen – oder auch nicht, wenn man einige moderne Streichtrios anhört – scheint selbstverständlich, wenn man an Bach, Mozart und andere Komponisten denkt. Was aber geschieht, wenn drei Musikerinnen mit ihren jeweils einzelnen, ganz persönlich und individuell komponierten Stimmen sich zusammentun, das ist bei diesem Werk von Eliasson etwas ganz Besonderes und Neues. Es entsteht eine utopische Verbindung, in der alle Stimmen eine völlig neue klangliche und energetische Beziehung eingehen. Die Harmonik ist in unaufhörlich freischwebender Bewegung jenseits der sicheren Häfen fest definierter tonaler Zentren. Natürlich darf diese Musik in ihren immanenten Bezügen noch in vielen weiteren Aufführungen reifen, um ihr Potential nach und nach zur vollen Entfaltung zu bringen, aber was aus dieser Musik werden kann, wenn alle drei Musikerinnen ihre Eigenarten traumwandlerisch erkannt und verinnerlicht haben, das dürfte mit dem „Unvorstellbaren“, das Eliasson für möglich hielt, beschrieben sein. Und was Violine, Viola und Violoncello an diesem Abend zur Welt brachten, war letztlich atemberaubend genug und eröffnete völlig neue Horizonte einer Musik, die auf Zukünftiges hinwies. Dass mit Anders Eliasson einer der ganz großen Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts in die Anderswelt gegangen ist, davon werden die kommenden Jahre und die nächsten Konzerte mit seiner Musik Kunde geben. Einen intensiven Vorgeschmack davon, wie sehr Musik – jenseits aller Zeiten und „Moden“ – im Stande ist, Verbindungen zu schaffen und völlig neu zu entwickeln, davon gab dieser Abend im großen Saal des Freien Musikzentrums in München einen unwiderstehlich intensiven Vorgeschmack.