Zu Weihnachten eine besonders opulente Rezension in der Kolumne "Listening for the-listener.de" von Christoph Schlüren
von Christoph Schlüren • 17. Dezember 2013
Fritz Reiner, am 19. Dezember 1888 in Budapest geboren und am 15. November 1963 in New York City gestorben, war ohne jeden Zweifel einer der begnadetsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, was kein einigermaßen gehörbegabter und fachkundiger Kenner und Liebhaber plausibel in Frage stellen kann. Nur ganz wenige Kollegen beherrschten in vergleichbarer Weise Partitur und Orchester, und unter diesen war nur ein kleiner Teil musikalisch ähnlich begabt. So stand Reiner als Musiker von vielseitig reichem, stilistisch flexiblem und kultiviert natürlichem Ausdruck weit über Toscanini und ohnehin über späteren Werktreue-Exekutanten wie Igor Markevich, Pierre Boulez, Günter Wand oder Michael Gielen, und sein expressives Spektrum ist viel weiter als etwa das von solchen Giganten wie George Szell, Otto Klemperer, seinem Chicago-Nachfolger Georg Solti (der sich kurioserweise aufs Banner schrieb, das Chicago Symphony Orchestra aus der Provinzialität zu Weltgeltung geführt zu haben) oder Herbert von Karajan.
Bei Fritz Reiner fallen in glücklicher Weise Stringenz der formalen Darstellung, maximale Präzision der Abläufe, kontrollierte Freiheit des Rhythmischen und charakteristische Phrasierungskunst zusammen. Einige der ganz großen Musiker unter den Pultheroen wie Wilhelm Furtwängler, Leopold Stokowski, Carl Schuricht oder Reiners berühmtester Schüler Leonard Bernstein müssen sich da bei allen Meriten in puncto Exaktheit hinten anstellen, auch wenn wir ihnen viele ergreifendere, transzendentere Darbietungen verdanken. Also ist der Kreis ein kleiner, innerhalb dessen sich seine Kunst in all ihren Stärken und Schwächen objektiv ermessen lässt: Victor de Sabata, Václav Talich, Erich Kleiber, Yevgeni Mravinsky, und natürlich Sergiu Celibidache. Doch das nun ist ein Thema von solcher Mannigfaltigkeit, dass sich darüber gleich mehrere Bücher schreiben ließen…
Angesichts all dessen muss uns nun wirklich verwundern, dass Reiners Berühmtheit in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Bedeutung und der singulären Qualität seines diskographischen Vermächtnisses steht. Lange Zeit suchte man sogar in vielen Abriss-Büchern über die großen Dirigenten seinen Namen vergebens, und erst 2005 erschien bei University of Illinois Press die erste autoritative, gründlich recherchierte und faktisch reichhaltige Biographie über diesen Generalfeldmarschall der Musik: ‚Fritz Reiner. Maestro & Martinet’ von Kenneth Morgan – ein Buch, das bezeichnenderweise bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, das jedoch via amazon sehr günstig zu beziehen ist. Auf der stokowski.org-Website findet sich eine exzellent recherchierte und dargestellte komplette Diskographie Reiners, und dort wird auch plausibel herausgestellt, dass es bereits in den dreißiger Jahren (anders als damals noch in Europa) in den USA notwendig war, ein Plattenstar zu sein, um zu überregionalem Ruhm zu kommen – so heißt es gleich im eröffnenden Kommentar-Satz: „Fritz Reiner at age of 50 was not a well-known conductor.“ Dann aber ging es so richtig los: in den vierziger Jahren mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra für Columbia, und dann, Krönung einer brillanten Karriere, von 1954 bis 1963, mit dem Chicago Symphony Orchestra für RCA. Warum also, so muss man nun doch fragen, trotzdem die unverhältnismäßig geringe postume Popularität?
Es gab einen zentralen Makel in Fritz Reiners imposanter Persönlichkeit. Ob der nötig gewesen wäre? Keinem anderen Dirigenten wurde eine solch absolut unumstößliche Autorität nachgesagt, die es nicht nötig hatte, zwischendurch mit Tobsuchtsanfällen à la Toscanini außer Kontrolle zu geraten. Nein, Reiner war die Kontrolle in Person. Jedoch sind die Geschichten Legion, die ihn als gnadenlosen Zyniker und Sadisten ausweisen. Reiner, so heißt es, hatte „keine Lieblinge“, jeder musste zittern, jedoch stets „Sündenböcke“, also Musiker, die er zielstrebig so lange schikanierte und bloßstellte, bis sie irgendwann unter der Last der negativen Aufmerksamkeit zusammenbrachen. Er übte eine klassische Schreckensherrschaft aus. Wenn von Pult-Despoten die Rede ist, von totalitärem Regime über dem orchestralen Fußvolk, so ist Reiner der absolute Favorit auf die Spitzenposition in der abendländischen Musikgeschichte – gefürchtet, verhasst, und in seiner fachlichen Feldherren-Kompetenz entsprechend unangreifbar. Ein Mann, der von seinen Untergebenen, mit denen er wie mit Schachfiguren spielte, um ein optimales Resultat zu erzielen, nicht gestürzt werden konnte, und der, war er erst einmal Chef, dies auch, mit unwiderlegbar phänomenalen Resultaten, für lange Zeit bleib. Als er Hauptdirigent an der Metropolitan Opera in New York wurde, war das erste, was man ihn dringend wissen ließ, die Warnung, hier könne er nicht einfach nach Belieben Musiker feuern. Dem unumschränkten Perfektionsanspruch wurden erstmals sozialkompatible Grenzen gesetzt, und konsequenterweise war dies auch Reiners kürzeste Amtszeit, die in unüberbrückbaren Differenzen mit einem anderen Alphatier, dem Intendanten Rudolf Bing, endete.
Reiner hatte ab 1899 an der Franz Liszt-Akademie in Budapest bei Béla Bartók Klavier und bei Leo Weiner Komposition studiert und machte seine ersten Erfahrungen als Korrepetitor ab 1908 an der Budapester Deutschen Komischen Oper. 1910-11 wirkte er, unter Václav Talich, als Kapellmeister an der Deutschen Oper im slowenischen Ljubljana (Laibach), und 1914 ging er nach Dresden, wo er an der Sächsischen Hofoper dirigierte und in engen Kontakt mit Richard Strauss kam, von dessen ‚Frau ohne Schatten’ er – dies sozusagen Strauss’ Ritterschlag – 1919 die Dresdner Premiere leitete. 1921 verließ er Europa und begann 1922 seine glorreiche amerikanische Karriere, wo er als Nachfolger von Eugène Ysaÿe für elf Jahre (bis 1933) die Leitung des Cincinnati Symphony Orchestra übernahm (hier hatte sich bereits 1909-12 Stokowski seine ersten großen Meriten erworben). Schon 1925 hatte Reiner dort so unnachgiebig „ausgemistet“, dass nur noch 25 Musiker der ursprünglichen 1922er Besetzung im Orchester mitwirkten. 1928 wurde er US-amerikanischer Staatsbürger. Ab 1931 leitete er die legendäre Dirigierklasse am Curtis Institute in Philadelphia, aus der u. a. Leonard Bernstein und Lukas Foss erfogreich hervorgingen – andere flohen oder gaben es ganz auf, traumatisiert von den fast übermenschlich anmutenden Anforderungen und dem messerscharfen Zynismus, mit dem jedes Verzagen und Versagen vergolten wurde. In jenen Jahren dirigierte er als Gast oft die New Yorker Philharmoniker und das Philadelphia Orchestra. Reiner gab die Position in Philadelphia auf, als er 1938 die Leitung des Pittsburgh Symphony Orchestra übernahm, welches er bis zu seinem Rücktritt 1948 zu herausragender Klasse führte, was alljährlich Dutzende von Musikern den sicher geglaubten Job kostete. 1949-53 wirkte er als Hauptdirigent an der New Yorker Metropolitan Opera (später kehrte er dorthin mehrfach als Gastdirigent zurück) und leitete u. a. 1951 die US-Première von Igor Strawinskys ‚The Rake’s Progress’. Als er 1953 zum Musikdirektor des Chicago Symphony Orchestra ernannt wurde, läutete dies die krönende Phase seiner Laufbahn ein. Nachdem er in den letzten Jahren infolge eines Herzinfarkt im Oktober 1960 die Gesamtbelastung dieser Position nicht mehr tragen konnte, reduzierte er seine Tätigkeit auf den Titel eines Musical Advisor, blieb jedoch weiterhin die bestimmende Persönlichkeit in Chicago und trat bis zum April 1963 weiterhin auf. Das letzte halbe Jahr bis zu seinem Tod lebte er zurückgezogen in seinem Haus in Connecticut.
Wenn nun RCA erstmals Fritz Reiners sämtliche Aufnahmen mit dem Chicago Symphony Orchestra auf 63 CDs in einer schmucken Box veröffentlicht, so sind dies beileibe nicht sämtliche Aufnahmen, die Reiner in den 50er Jahren für RCA machte. An der Spitze des in New Jersey ansässigen, hauseigenen RCA Victor Symphony Orchestra zeichnete er für eine stattliche Anzahl viel beachteter Einspielungen verantwortlich, so 1950 Auszüge aus Johann Strauss’ ‚Fledermaus’, Richard Strauss’ ‚Till Eulenspiegels lustige Streiche’ und ‚Tod und Verklärung’, 5 Walzer von Tschaikowsky, Saint-Saëns’ 1. Cellokonzert mit Gregor Piatigorsky und Brahms’ Alt-Rhapsodie mit Marian Anderson; 1951 Georges Bizets ‚Carmen’, Brahms’ Doppelkonzert mit Nathan Milstein und Gregor Piatigorsky, Rachmaninoffs Drittes Klavierkonzert mit Vladimir Horowitz, Szenen aus Strauss’ ‚Rosenkavalier mit Risë Stevens und Erna Berger, und Liszts Totentanz mit Alexander Brailowsky; 1952 die vier Orchester-Suiten von Johann Sebastian Bach und Beethovens Fünftes Klavierkonzert mit Horowitz, und weitere kleinere Stücke. Mit dem ‚Robin Hood Dell Orchestra’ (der RCA-Deckname für das Philadelphia Orchestra) entstanden zudem 1951 Aufnahmen von Orchesterstücken aus Mendelssohns Sommernachtstraum-Schauspielmusik und Rachmaninoffs Paganini-Rhapsodie mit William Kapell, mit dem NBC Symphony Orchestra 1952 von Ravels ‚Tombeau de Couperin’ und 1954 von Mozarts Divertimento in D-Dur KV 522, alles für RCA. Außerdem machte er später einige berühmte Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern für Decca, darunter 1960 das Verdi-Requiem. All diese Einspielungen mit anderen Orchestern als jenem aus Chicago sind in der aktuellen Box nicht enthalten, mit einer bezeichnenden Ausnahme: der letzten Aufnahme, die Reiner überhaupt machte, im September 1963 in New York für RCA. Es sind dies Joseph Haydns Symphonien Nr. 95 und 101 – sie gehören zu den feinsten Dokumenten des Dirigenten –, und es spielen ‚Fritz Reiner & His Orchestra’, ein ad-hoc-Orchester aus New Yorker Orchestermusikern. Nicht enthalten in vorliegender Box sind hingegen sämtliche Mitschnitte des Chicago Symphony Orchestra, die nicht im Studio für RCA entstanden, und das ist eine Menge, die weit verstreut dokumentiert ist und von der vieles bis heute nicht kommerziell zugänglich gemacht wurde; herausragendes Live-Material Fritz Reiners findet sich auf einer exzellent aufbereiteten Box des Label West Hill Radio Archives (The Art of Fritz Reiner Vol. 1, American Broadcast Performances, WHRA 6024, Vertrieb: Note 1).
Doch kommen wir schließlich zum Reiner-Chicago-Studio-Vermächtnis, das Gegenstand dieser Rezension ist. Für viele galt das Chicago Symphony Orchestra unter Reiner als das „beste Orchester der Welt“ – eine solche Bewertung ist natürlich immer problematisch, aber dass es sich um Dokumente absoluter Spitzenklasse handelt, die hier zu einem äußerst niedrigen Preis komplett erworben werden können, steht außer Frage. Sensationell und legendär ist die Aufnahmetechnik, die sicherlich das Beste repräsentiert, was zu jener Zeit möglich war, und bis heute nicht übertroffen ist.
Eine chronologische Betrachtung, orientiert an den Geburtsdaten der Komponisten, möge die Übersicht erleichtern. Von Johann Sebastian Bach hatte Reiner in Pittsburgh eine berühmte Aufnahme der 6 Brandenburgischen Konzerte gemacht, mit der er durchaus Kollegen wie Koussevitzky, Charles Münch, Ormandy oder auch Klemperer in den Schatten stellt, die jedoch bei aller musikantischen Verve eine gewisse Schwere und quadratische Diktion offenbart. In Chicago nahm er lediglich das Klavierkonzert in f-moll mit dem hochbegabten polnischen Emigranten André Tschaikowsky auf (der auch ein exzellenter Komponist war), doch stand die Session unter einem miserablen Stern. Zuvor hatten die beiden Mozart C-Dur-Konzert KV 503 aufgenommen, und als Tschaikowsky überraschend bekannte, er spiele das Werk zum ersten Mal, war Reiner trotz der sehr feinfühligen und souveränen Darbietung so empört, dass er daraufhin bei Bach so gleichgültig begleitete, dass Tschaikowsky, an dessen vorzüglicher Aufführung nicht zu mäkeln ist. anschließend die Veröffentlichung untersagte. Natürlich hat man danach nicht mehr zusammen musiziert.
Die Einspielungen der Haydn-Symphonien gehören zum überzeugendsten, was Reiner geleistet hat – stringent, schlüssig, empfindsam, stilsicher –, und dies nicht nur in den beiden späten New Yorker Dokumenten, sondern auch in der 88. Symphonie aus Chicago. Von seinem Mozart bin ich eher unter Vorbehalt angetan – ein gewisser pompös-barocker Grundzug ist nicht zu verleugnen, und nur, wer sich mit absoluter Überlegenheit und makellosem Zugriff zufrieden gibt und die modulatorische Wendigkeit und das letztlich selbst im Forte noch zu fordernde filigrane Element nicht vermisst, wird hier einen idealen Zugang konstatieren. Da finde ich seinen Beethoven insgesamt weit idiomatischer gelungen, mit einer oft erstaunlichen Poesie und Wärme des Gemüts, und natürlich fesselnd in der Attacke, Brillanz, rigorosen Strenge und kompakten Dichte, wo sich das heroische Element entfaltet. Ganz besonders bezaubernd ist Van Cliburns Spiel im Vierten und auch Fünften Klavierkonzert. Rossini ist brillant, schwungvoll und imposant, für meinen Geschmack aber auch zu kraftmeierisch wuchtig. Zu Schubert hatte Reiner ein sehr natürliches Verhältnis, hier kommt auch eine wienerische Süße zum Tragen, die uns mit ihrem Charme einfängt, und die Sforzati, die gewöhnlichermaßen stets viel zu aufdringlich kommen, werden hier sehr kultiviert integriert. Der Grundgestus ist klassisch, frisch und, wie stets unter Reiner, frei von jeglicher billigen Sentimentalität, aber nie dies mit Härte und Rigidität vermeidend.
Herausragend ist Reiner immer da, wo das Tänzerische im Vordergrund steht, sei es in Webers Aufforderung zum Tanz, Liszts Tanz in der Dorfschenke, Smetanas Ouvertüre zur Verkauften Braut, in russischer Musik, Strauss’ Salomes Tanz und einer Rosenkavalier-Walzerfolge in Reiners Einrichtung, Jaromir Weinbergers Polka-Fulminanz oder Ravels Valses nobles et sentimentales. Höhepunkt dieser Kunst flexibler Gestaltung des Tänzerischen sind seine Aufführungen der Walzer von Johann und Josef Strauss – da steht er, mit einem objektivierenden Zug, durchaus auf einer Höhe mit dem grandiosen, spontaneren und vergleichbar souveränen Erich Kleiber.
Robert Schumann ist leider nur mit seinem Klavierkonzert vertreten, dies allerdings gleich zweimal, wobei damals die Aufnahme mit dem Hypervirtuosen Byron Janis nicht erschien, da die sehr feine Darbietung Van Cliburns in allzu direkter Konkurrenz dazu stand. Dafür kam Janis in schlagender Manier mit Liszts markigem Totentanz, Richard Strauss’ Burleske und Rachmaninoffs 1. Klavierkonzert zu Gehör.
Dass Reiner ein meisterlicher Wagner-Dirigent war, bezeugen nicht nur seine Met-Mitschnitte, sondern auch die hier vorliegenden Orchesterstücke, und nicht weniger verstand er sich auf Brahms, sei es in einer klar strukturierten und mit biegsamer Emphase vorgetragenen Dritten Symphonie, im sehr kultiviert begleiteten 1. Klavierkonzert (mit Rubinstein), den beiden großartigen Aufnahmen des 2. Klavierkonzerts (mit Emil Gilels und Van Cliburn) oder der berühmten und in ihrer solistischen Perfektion unübertroffenen Einspielung des Violinkonzerts durch Jascha Heifetz, mit dem auch eine Referenzaufnahme des Tschaikowsky-Konzerts entstand. Von Tschaikowsky gibt es auch ein hinreißendes 1. Klavierkonzert mit Gilels, und Reiners Tschaikowsky-Aufnahmen faszinieren mit kontrollierter Kraftentfaltung, überlegen disponiertem Steigerungsaufbau und herrlich entfesselter Charakteristik der Tanztypen, sei es in den Nussknacker-Auszügen, der ‚Pathétique’, oder den sehr geschmeidigen, erstaunlich wohlbalancierten Präsentationen von solchen ‚Krachern’ wie dem Slawischen Marsch oder der 1812-Ouvertüre. Das slawische Naturell lag ihm sehr, wofür weiterhin populäre Werke von Glinka, Borodin, Mussorgsky, Dvorák, aber auch Strawinsky, Prokofieff oder Kabalevsky glühendes Zeugnis ablegen, und natürlich Rachmaninoff, den Reiner besonders liebte.
Fritz Reiners absoluter Favorit – neben den großen Klassikern – war Richard Strauss. ‚Also sprach Zarathustra’ war das erste Werk, das er in Chicago aufnahm, und als er später eine zweite Aufnahme davon vorlegte, hatten sich viele Kenner so sehr in die erste verliebt, dass sie nicht mehr in der Lage waren, die noch größere Subtilität und zusammenhängendere Formung zu würdigen. Es ist fast egal, was Reiner von Richard Strauss dirigierte, und es ist auch offenkundig, dass seine Idiomsicherheit nicht unwesentlich auf seinem traumwandlerischen Zugang zur Walzerwelt Johann Strauss’ beruhte – hier handelt es sich durchgehend um Dokumente, die zum Besten gehören, was je aufgezeichnet wurde, und deren Rang bis heute kaum je erreicht wurde. Dies gilt ganz besonders für die Szenen aus ‚Salome’ und ‚Elektra’ mit der leuchtkräftigen Sopranistin Inge Borkh, doch nicht minder für einen unglaublich perfekten ‚Don Juan’, die gigantischen Architekturen des ‚Heldenlebens’, der ‚Symphonia domestica’ und des ‚Don Quixote’-Variationszyklus mit dem Cellosolisten Antonio Janigro (einer der größten Cellisten des vergangenen Jahrhunderts, János Starker, war Stimführer im Chicago Symphony Orchestra und trat unter Reiner mehrfach als Solist auf, jedoch hat man leider nicht zusammen für RCA aufgenommen). Und wenn dann Reiner, dieser Meister der Ökonomie der Geste, der nie mechanischer Zurschaustellung choreographisch mechanisierter Posen anheimfiel, den Degen des Fechtmeisters in der ‚Bürger als Edelmann’-Musik herausfahren lässt, kann sich wohl keiner der zugespitzten Verve entziehen, die suggestiv mitreißt.
Selbstverständlich war Reiner auch ein grandioser Mahler-Dirigent, und seine Vierte Symphonie kennt ihresgleichen nicht. Bei Debussy, Ravel, Rachmaninoff, Respighi, Bartók, Strawinsky, und in Prokofieffs epischer Kantate ‚Alexander Nevsky’ erweist er sich, wie ganz zu erwarten war, als unwiderstehlicher Orchesterbeherrscher. Eine ganz besonders idiomatische Beziehung unterhielt er zum impressionistischen spanischen Repertoire, in Partituren de Fallas, von Albéniz/Arbos und Granados, wo er als funkensprühender Rhythmiker genau verstand, dass Steigern gar nichts zu tun haben muss mit oberflächlicher Beschleunigung, dass die rhythmische Spannkraft, bei entsprechend profunder Einstudierung, gerade in zurückgehaltenen Tempi umso vehementer zum Ausdruck kommen kann.
Fritz Reiners Bartók (er war es, der Koussevitzkys Bostoner Auftrag für das Konzert für Orchester initiierte) ist in der Verbindung von struktureller Nüchternheit und expressiver Urgewalt seit jeher aufs Höchste gepriesen worden, und so stimmt es ein wenig bedauerlich, dass er in Chicago nicht auch ein wenig Musik seiner anderen großen Landsmänner Dohnányi, Kodály, Weiner oder Lajtha einspielte. Doch gibt es auch ein paar echte Raritäten, und die sind bestechend geraten: gemeinsam mit den Cracks vom Sauter-Finegan Orchestra das knackige Concerto for Jazz Band and Symphony Orchestra von Rolf Liebermann, der hier eher ausnahmsweise so alles andere als abstrakt komponierte, und die 2. Symphonie ‚Mysterious Mountain’ vom armenisch-stämmigen Meister einer erneuerten Diatonik Alan Hovhaness.
Die innerhalb eines knappen Jahrzehnts entstandene, kontinuierlich erstrangige diskographische Gesamtleistung des Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner wurde letztlich einzig durch Reiners fortschreitend maroden Gesundheitszustand ausgebremst, und ist in die Geschichte eingegangen als goldene Ära der Schallplattenproduktion. Wer an Orchesteraufnahmen höchsten Karats in exzellenter Wiedergabe ernsthaft interessiert ist, kann sich das eigentlich nicht entgehen lassen. Alle CDs sind, wie bei den Sony-Hardcover-Luxusboxen schon lange üblich, in verkleinerten Original-Schallplattenhüllen verpackt. Der recht ausführliche Booklettext stammt vom maßstabsetzenden Biographen Kenneth Morgan, doch hier empfiehlt es sich nun wirklich, als Bonus sozusagen, zusätzlich die Biographie anzuschaffen (ISBN 9780252-077302).
Christoph Schlüren
Fritz Reiner / Chicago Symphony Orchestra / The Complete RCA Album Collection
Johann Sebastian Bach: Klavierkonzert f-moll (André Tchaikowsky)
Joseph Haydn: Symphonien Nr. 88, 95 und 101
John Stafford Smith: The Star-Spangled Banner
Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonien Nr. 36, 39, 40 und 41, Divertimento D-Dur KV 334, 25. Klavierkonzert KV 503 (André Tchaikowsky), Eine kleine Nachtmusik KV 525, Don Giovanni-Ouvertüre
Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 1, 3, 5, 6, 7 und 9, Coriolan-Ouvertüre, Klavierkonzerte Nr. 4 (Van Cliburn) und 5 (Van Cliburn)
Carl Maria von Weber/Berlioz: Aufforderung zum Tanz
Gioacchino Rossini: Ouvertüren zu Wilhelm Tell, La scala di seta, Il signor Bruschino, Il barbiere di Siviglia, La gazza ladra und La Cenerentola
Franz Schubert: Symphonien Nr. 5 B-Dur D 485, h-moll D 759 ‚Unvollendete’ und C-Dur D 944
Héctor Berlioz: Les nuits d’été (Leontyne Price, Sopran)
Michail Glinka: Ruslan und Ljudmila-Ouvertüre
Felix Mendelssohn Bartholdy: Hebriden-Ouvertüre
Robert Schumann: Klavierkonzert (2x, Van Cliburn & Byron Janis)
Franz Liszt: 1. Mephisto-Walzer ‚Tanz in der Dorfschenke’, Totentanz (Byron Janis)
Richard Wagner: Vorspiel zum 1. und 3. Aufzug, Tanz der Lehrbuben und Aufzug der Meister aus ‚Die Meistersinger von Nürnberg’, Morgendämmerung, Siegfrieds Rheinfahrt und Trauermarsch aus der ‚Götterdämmerung’
Bedrich Smetana: Verkaufte Braut-Ouvertüre
Johann Strauss d. J.: Morgenblätter, Künstlerleben, Unter Donner und Blitz, An der schönen blauen Donau, Wiener Blut, Rosen aus dem Süden, Schatz-Walzer, Kaiserwalzer
Josef Strauss: Dorfschwalben aus Österreich, Mein Lebenslauf ist Lieb’ und Lust
Johannes Brahms: 1. Klavierkonzert (Artur Rubinstein), Violinkonzert (Jascha Heifetz), Tragische Ouvertüre, 2. Klavierkonzert (2x, Emil Gilels und Van Cliburn), 3. Symphonie
Alexander Borodin: Polowetzer Marsch aus ‚Fürst Igor’
Modest Mussorgsky/Rimsky-Korsakov: Nacht auf dem kahlen Berge
Modest Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung
Pjotr Tschaikowsky: 1. Klavierkonzert (Emil Gilels), Marche slave, Marche miniature aus der 1. Orchestersuite, Violinkonzert (Jascha Heifetz), Ouverture solenelle ‚1812’, Auszüge aus dem Ballett ‚Der Nussknacker’, 6. Symphonie
Nikolai Rimsky-Korsakov: Scheherazade (Sidney Harth, Violine)
Antonín Dvorák: Karneval-Ouvertüre, 9. Symphonie
Gustav Mahler: 4. Symphonie (Lisa Della Casa, Sopran), Das Lied von der Erde (Maureen Forrester, Alt, und Richard Lewis, Tenor)
Isaac Albéniz/Arbos: Navarra, Fête-Dieu à Seville, Triana
Claude Debussy; Ibéria, La mer
Richard Strauss: Don Juan op. 20 (2x, 1954 & 1960), Burleske für Klavier und Orchester (Byron Janis), Also sprach Zarathustra op. 30 (2x, 1954 & 1962), Don Quixote op. 35 (Antonio Janigro, Cello), Ein Heldenleben op. 40, Symphonia Domestica op. 53, Salomes Tanz der sieben Schleier, Szenen aus Salome und Elektra (Inge Borkh, Sopran), Der Bürger als Edelmann-Suite op. 60 (um 2 Sätze gekürzte Fassung). Rosenkavalier-Walzer (arr. Reiner)
Enrique Granados: Intermezzo aus ‚Goyescas’
Sergej Rachmaninoff: 1. Klavierkonzert (Byron Janis), 2. Klavierkonzert (2x, Artur Rubinstein & Van Cliburn), Die Toteninsel, Paganini-Rhapsodie (Artur Rubinstein)
Maurice Ravel: Pavane pour une infante défunte, Rapsodie espagnole, Alborada del Gracioso, Valses nobles et sentimentales
Manuel de Falla: Nächte in spanischen Gärten (Artur Rubinstein), Interludium und Tanz aus ‚La vida breve’, 2. Suite aus ‚Der Dreispitz’, ‚El amor brujo’ (Leontyne Price, Sopran)
Ottorino Respighi: Fontane di Roma, Pini di Roma
Béla Bartók: Ungarische Skizzen, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Konzert für Orchester
Igor Strawinsky: Chant du Rossignol, ‚Kuss der Fee’-Divertimento
Sergej Prokofieff: Leutnant Kijé-Suite, Alexander Nevsky (Rosalind Elias, Mezzosopran)
Jaromir Weinberger: Polka und Fuge aus ‚Schwanda, der Dudelsackpfeifer’
Dmitry Kabalevsky: Colas Breugnon-Ouvertüre
Rolf Liebermann: Concerto for Jazz Band and Symphony Orchestra
Alan Hovhaness: 2. Symphonie ‚Mysterious Mountain’
Sony Classical (63 CDs)
ISBN 88883701982