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The Listener

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Busonis instrumentales Hauptwerk in orchestralem Klanggewand

Rezension zur deutschen Erstaufführung von Ira Levins Orchestration von Ferruccio Busonis ‚Fantasia contrappuntistica’

von Christoph Schlüren  •  18. November 2013

Ira Levin, derzeit Hauptdirigent des Teatro Colón in Buenos Aires, ist ein äußerst vielseitiger, kraftvoller Musiker. Er ist gleichermaßen ein fulminanter Klaviervirtuose, exzellenter Dirigent und meisterhafter Arrangeur, dem wir sowohl grandiose Klavierbearbeitungen (etwa von Richard Strauss’ ‚Tanz der sieben Schleier’ aus ‚Salome’) und hervorragende Orchestrationen (u. a. von Franz Liszts Fantasie und Fuge über BACH und von César Francks Klavierquintett) verdanken, die das Zeug dazu haben, ins allgemeine Repertoire einzugehen. Nun gab Levin am 10. November sein Debüt in der Berliner Philharmonie am Pult der Berliner Symphoniker.

Auf dem Programm: seine Orchestration von Ferruccio Busonis ‚Fantasia contrappuntistica’, gefolgt von Mozarts Klavierkonzert Es-Dur KV 449 mit Levin selbst als Solisten und Robert Schumanns Vierter Symphonie. Um es vorwegzunehmen: Es ist ziemlich unglaublich, welche Qualität Levin mit dem Orchester bei einem so anspruchsvollen Programm erreichen konnte, obwohl ihm dafür nur zwei Proben zur Verfügung standen.

Busonis ‚Fantasia contrappuntistica’, in Erstfassung 1910 vollendet, ist eines der legendären Meisterwerke, von denen alle Kenner reden und die die wenigsten kennen. Sie entstand als krönender Abschluss einer langen Reihe von kleineren Klavierwerken, die Busoni seit der von ihm selbst proklamierten Stilwende im Jahr 1907 geschrieben hatte. Diese Wende ist freilich mehr eine innere, transzendente, als eine äußerlich erkennbare, werkimmanente gewesen, und sehr vieles aus seiner Musik der vorangehenden Jahre (wie das große Klavierkonzert, die ‚Turandot’-Musik oder die Oper ‚Die Brautwahl’) floss darin ein und verschmolz damit zu etwas Neuem.

Bei einer Chicago-Reise lernte er Bernhard Ziehn und Wilhelm Middelschulte kennen, die Verfechter eines neuen linearen Kontrapunkts „gotischer“ Art – eine Begegnung, die Busonis viel zitierte und wenig verstandene Idee einer neuen „Klassizität“ nachhaltig befruchtete, wenn er auch von den kreativen Fähigkeiten der beiden Anreger in geringerem Maße beeindruckt war. Die ‚Fantasia contrappuntistica’ ist jedenfalls der authentische und beeindruckendste Niederschlag dieser eigentlich neben den Zeitläuften erstehenden kompositorischen Haltung – sie ist zugleich eine Hommage an Johann Sebastian Bach, dessen unvollendete letzte Fuge aus der ‚Kunst der Fuge’ Busoni hier „vollendet“, und sie soll den Weg weisen zu einer erneuerten kontrapunktischen Kunst und großformalen Meisterschaft jenseits der selbstzweckhaften, subjektiv leidenschaftlichen Klanghypertrophien der dekadenten Spätromantik. Einem ausgedehnten Choralvorspiel, das auf eine frühere Arbeit zurückgreift, folgen drei große Fugen. Busoni hat später noch eine zweite Fassung des Werkes für Soloklavier geschrieben, und 1922 eine Fassung für zwei Klaviere, die seinen kompositorischen Intentionen am ehesten gerecht wird.

Bereits 1911 schrieb Frederick Stock, Chefdirigent in Chicago, eine erste Orchesterbearbeitung des Werkes, die solide und effektvoll war, jedoch zu grob mit dem filigranen Stoff verfuhr und bald darauf von Busoni verworfen wurde. Einige spätere Orchestrationen sind nicht der Öffentlichkeit bekannt geworden, mit Ausnahme derjenigen des renommierten Busoni-Forschers Antony Beaumont, der das Werk für ein weniger massives Ensemble setzte, nämlich für Streicher, Harfe, Klavier und Celesta, auch, um es mit Bartóks ‚Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta’ in nähere Verbindung zu bringen. Dies lässt natürlich eine prachtvolle Entfaltung der massiveren Aspekte der Fantasia nicht zu. Nun hat Ira Levin das Werk 2010 für großes Orchester gesetzt, und diese Fassung erklang in Berlin als deutsche Première. Sie ist als seltener Glücksfall zu begrüßen, auch wenn man immer davon ausgehen muss, dass der Komponist, hätte er den Plan der Orchestrierung (den hatte er!) selbst ausgeführt, in der konkreten Faktur vieles geändert und idiomatischer auf die gegebene Instrumentation zugeschneidert hätte. Aber dies kann ein Bearbeiter eben nicht nachholen (gleiches gilt z. B. für Felix Weingartners phänomenale Orchestration von Beethovens Hammerklavier-Sonate)! Und insofern durften wir einer geradezu idealen Lösung des Problems lauschen, die von feinster kammermusikalischer Verästelung bis zu mächtigen Auftürmungen reichte und nicht nur bezüglich der immensen Beherrschung des klanglichen Apparats beeindruckte, sondern insbesondere durch die fabelhafte Dramaturgie, die tatsächlich über weite Strecken symphonisch anmutet. Man muss nicht extra betonen, dass die Aufführung stilistisch höchst treffsicher war, sollte jedoch unterstreichen, dass dies in einem absoluten Minimum an Zeit mit großer Überzeugungskraft, makelloser Technik, gestalterischem Willen und bewusster Formung der Kontraste und Übergänge erreicht wurde.
Danach Mozarts 14. Klavierkonzert aus dem Jahre 1784, von Levin mit herrlichem Feinsinn und klarer struktureller Bewusstheit makellos und frisch gespielt: Was für einen Klang hat dieser Mann, was für eine Fülle und einen Reichtum an Farben, welch einen Zauber entfacht er, ohne dass es je dick, „romantisch“ oder willkürlich würde! Und er versteht es blendend, vom Klavier aus mit dem Orchester zu kommunizieren und zu führen.

Das Publikum feierte ihn und entlockte ihm noch zwei Zugaben, die nicht weniger eindrucksvoll gerieten. Nach der Pause dann Schumanns Vierte Symphonie (ursprünglich seine Zweite), die sehr stringent gelang, und (soweit es die knappe Probenzeit zuließ) mit sinnfälliger Phrasierung, feingezeichnetem Klang und natürlich anmutenden Tempi machtvoll in ihren Bann zog.

Diesen Musiker, der in Berlin lebt, wollen diejenigen Berliner, die zugegen waren, nun öfter hören – wofür natürlich auch hilfreich gewesen wäre, hätte sich auch nur ein Kritiker von einer der Berliner Tageszeitungen im Konzert sehen lassen.
Immerhin, es ging ja auch ganz zentral um Ferruccio Busoni und sein instrumentales Hauptwerk…

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