Epische DimensionenDie Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge XIIIvon Christoph Schlüren • 4. Oktober 2013 Nikolai Medtner ist eigentlich nur ausgesprochenen Klaviermusik-Kennern ein Begriff. Medtner war ein ausgezeichneter Klaviervirtuose und sozusagen der musikalische Bruder von Sergej Rachmaninoff – die beiden pflegten herzlichste Freundschaft und gegenseitige Hochachtung. Komposition hatte Medtner zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Sergey Taneyev studiert, und so, aus der Tschaikowsky-Linie kommend, sollte uns nicht weiter verwundern, dass ihn seine russischen Landsleute, trotz all der herrlichen Märchenstücke aus seiner Feder, für einen stark westlich beeinflussten Komponisten hielten, ja, ihm nachdrücklich das Etikett eines „russischen Brahms“ anhefteten. Geboren 1880 in Moskau, emigrierte Medtner 1921, nach der Oktoberrevolution, nach Deutschland. Er lebte drei Jahre lang in Berlin, bevor er schließlich nach England zog. In den späten Jahren förderte ihn großzügig der Maharadja von Mysore, und 1951 verstarb er in London. Komplett aus der Luft gegriffen ist das mit dem „russischen Brahms“ nicht, und immer wieder finden sich Passagen in Nikolai Medtners Musik, die tatsächlich stark nach dem norddeutschen Meister schmecken, hinsichtlich Motivik, Rhythmik, kontrapunktischer Führung, gelegentlich auch Modulatorik und Klangschichtung. Beide Meister teilen eine zutiefst introvertierte Lebenshaltung, die sich in der Musik unmittelbar spiegelt, doch geht Medtner dabei viel weiter, indem er die resignative Innenschau und das herbstliche Verdämmern noch weit epischer zelebriert und, wohl auch als Kind der impressionistischen Epoche, viel mehr das Atmosphärische hervorhebt und die Faktur und Form letztlich diesem Faktor anpasst als umgekehrt – was ihn dann doch in weite Ferne von einem makellos disziplinierten Klassizisten wie Brahms rückt. Chloë Hanslip und Igor Tchetuev legen eine Neueinspielung der Violinsonaten Nr. 1 und 3 auf höchstem Rang vor, und so kann die Musik einerseits endlich einmal wieder den ihr gebührenden Glanz entfalten. Und Medtners Violinsonaten zählen zu seinen substanziellsten Werken. Die erste Sonate, deren zwei erste Sätze 1910 entstanden, hat in der steigernden Satzfolge Canzona – Danza – Ditiramba einen durchaus noch konventionelleren, naiveren Ton und ist zugleich der Kombination der beiden sehr divergenten Instrumente so idiomatisch angepasst, wie dies selten gelingt. Hauptwerk dieser CD ist freilich die viersätzige, mehr als dreiviertelstündige, 1936-38 komponierte ‚Sonata Epica’ op. 57 mit ihren weit ausgreifenden Ecksätzen – Medtner erfüllt das Sonatensatz-Bauprinzip mit wahrhaft epischen Ausmaßen, und wer nicht ausgesprochen auf Dichte der Aussage besteht, kann hier wirklich in vollen Zügen genießen, auch wenn es gegen Ende gelegentlich einfach kein Ende nehmen will… Chloë Hanslip spielt die Musik wunderbar rein, sowohl in technischer als in ausdrucksmäßiger Hinsicht, und voll kultivierter Leidenschaft, und Igor Tchetuev ist ein idealer Widerpart, mit feinem Sinn für den plastischen Fluss der Musik, für eine lebendige Phrasierung, die sich nicht einfach dem Diktat der Taktbetonungen unterstellt, und mit noblem Ton geformter Balance – hier siegt einmal nicht der Stärkere, und die Geige gerät eben nicht unter Druck, auch da nicht ungebührlich, wo hohe Klangintensität angesagt ist. Ein wunderbares Album, auch klangtechnisch brillant, rund und ausgewogen, das uns das in Zeiten schrillster Dissonanz uns mit Wohlklang umwogende, ein reiches Netz farbenprächtigen Bezugreichtums webende Schaffen Nikolai Medtners in sinnfälligster Weise nahebringt. ——- Sonaten Nr. 1 h-moll op. 21 und Nr. 3 e-moll op. 57 ‚Sonata Epica’ Hyperion CDA 67963 (Vertrieb: Note 1) |
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