Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Intimate Voices

Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge XI

von Christoph Schlüren  •  22. Juli 2013

Die Geschichte des Ostrobothnian Chamber Orchestra mutet an wie ein Märchen. Sie findet seit gut vier Jahrzehnten statt und hält unvermindert an. 1945 in Kaustinen, dem Zentrum der finnischen Volksmusik, geboren, lernte der Geiger Juha Kangas zunächst bei dem Komponisten Erik Fordell und pflegte mit seinen Brüdern die traditionelle Spielmannsmusik. Dann trat er in die Sibelius-Akademie in Helsinki ein, wo Einojuhani Rautavaara und Aulis Sallinen zu seinen Lehrern gehörten, doch sein entscheidender Mentor war der einst in Budapest von Leo Weiner und Jenö Hubay ausgebildete karelische Geiger Onni Suhonen, eine Legende der Kammermusikerziehung, der Kangas vor allem in der Streichquartettklasse die entscheidende Prägung vermittelte. 1966 wurde Kangas Bratschist im Philharmonischen Orchester Helsinki. Doch 1971 hatte er für sich die Entscheidung gefällt, den Orchesterdienst zu quittieren, und ging als Lehrer zurück in seine Heimatprovinz, nach Kokkola am bottnischen Meerbusen. In dieser Kleinstadt mit heute 35.000 Einwohnern gründete er 1972 aus 10- bis 14jährigen Schülern ein Streichorchester, das schnell überregionalen Ruf erlangte.

Schon nach zwei, drei Jahren feierte man sensationelle Erfolge bei den Festivals in Kuhmo und Helsinki. Inzwischen war auch Kangas’ Kommilitone Pehr Henrik Nordgren (1944-2008), der seit Sibelius bedeutendste finnische Komponist, nach ausgedehnten Japan-Aufenthalten ins benachbarte Kaustinen übergesiedelt. Die Zusammenarbeit von Nordgren und Kangas sollte letztlich zu dem reichhaltigsten erstrangigen Streichorchester-Œuvre des 20. Jahrhunderts führen, und jedem an expressiver Symphonik der freitonalen Moderne Interessierten seien Nordgren-Aufnahmen unter Kangas’ Leitung – von Werken wie z. B. ‚Cronaca’ (BIS) –nachdrücklich empfohlen.

Jedenfalls gelang es Juha Kangas, sein Orchester zu immer höherer Qualität zu führen, und über den Zwischenstatus als Studentenensemble erreichte man schließlich 1989, nach 17 Jahren, den offiziell professionellen Status. Es folgte u. a. die Auszeichnung mit dem prestigeträchtigen Nordic Council Music Price. Eine große Zahl von Aufnahmen entstand bis heute, man hat weit über 100 Uraufführungen gespielt, die großen Solisten gehen im Provinzstädtchen aus und ein, und Tourneen führen die Musiker regelmäßig nach Amerika, Japan und durch ganz Europa. Zu den Komponisten, mit denen Kangas besonders intensiv zusammen arbeitet, zählen neben Nordgren Anders Eliasson, Peteris Vasks (der Kangas als „idealen Dirigenten nicht nur meiner Werke“ bezeichnet), Per Nørgård, Lepo Sumera, Einojuhani Rautavaara, Erkki Salmenhaara und viele weitere. In den neunziger Jahren engagierte Kangas Sakari Oramo als ersten Gastdirigenten, einige Jahre bevor dieser als Rattle-Nachfolger in Birmingham seine internationale Karriere begann, und mittlerweile steht fest, dass Oramo, der dem Ostrobothian Chamber Orchestra, wie es sich international nennt (finnisch: Keski-Pohjanmaan Kamariorkesteri), mit alljährlichen Konzerten stets die Treue hielt, Kangas auch als künstlerischer Leiter nachfolgen wird. Das Ostrobothnian Chamber Orchestra ist heute weltweit eines der besten Streichorchester, mit einem absolut unverwechselbaren, dichten, farbenreichen, in allen Schattierungen kultivierten, dunkel-kraftvollen Klang. Und ich möchte unterstreichen, dass es in dieser Authentizität kein besseres Ensemble gibt.

Mehrfach hat Kangas mit seinen Mitstreitern Alben mit nordischen Miniaturen aufgenommen, die in Kennerkreisen legendär sind und zugleich in ihrer tief berührenden Lyrik und leidenschaftlichen Intimität unmittelbar jedermann in Bann ziehen können – dafür braucht es keinerlei Wissen, keine Vorbildung, sondern nur offene Ohren gerade auch für die feinen Abstufungen von Klang und Ausdruck. Das einst bei Warner veröffentlichte Album ‚Adagietto’ hat längst Kultstatus erreicht und sei hier nochmals empfohlen.
Nun ist bei Alba Records ‚Nostalgia’ erschienen, lyrische Streicherwerke ausschließlich von finnischen Komponisten von der Sibelius-Generation bis zur gemäßigten klassischen Moderne. Den Anfang macht die Berceuse ‚Des armen Mädchens Wiegenlied’ von Robert Kajanus (1856-1933, dem bedeutenden Sibelius-Dirigenten), das den elegischen Tonfall der gesamten Anthologie setzt. Es folgen drei Stücke von Jean Sibelius, unterbrochen von der in der Nachfolge von Griegs ‚Ases Tod’ herzerschütternd schönen, inwendigen Ballade ‚Eines Morgens früh’, mit dem Untertitel ‚Der Verlassene’, von Armas Järnefelt (1869-1958), einem der unsterblichen Kleinode nordischer ‚Nationalromantik’. Von Sibelius ist neben der bekannten Romanze und einem frühen Presto das herrliche Impromptu zu hören – ein Stück, das Kangas und sein Orchester vielleicht öfter als irgendein anderes nordisches Stück gespielt haben, und das sie mit einer innigen Vollendung darbieten, die den Hörer ganz und gar in eine andere Welt hinüber gleiten lässt.

Nach Sibelius und seinen Getreuen Kajanus und Järnefelt geht die Reise über den leichteren Tonfall Erkki Melartins (1875-1937) zu den verhaltenen, harmonisch so reichen wie verfeinerten Vorboten der herannahenden Moderne: Canzonen von Aarre Merikanto (1893-1958) und Väinö Raitio (1891-1945). Einige Stücke, etwa von Järnefelt, Klami, Kaski oder Kuula, sind mehr oder weniger direkt von melancholischen Volkschorälen inspiriert beziehungsweise schlichte Harmonisierungen dieser eigentümlich protestantische und ländliche Kultur verbindenden Gesänge.
Uuno Klami (1900-61) zählt zu den faszinierendsten finnischen Meistern. Sein Kehtolaulu (Wiegenlied) ist in der archaisch kargen Satzweise mit ihren eigentümlichen Wendungen zutiefst anrührend, während die kurze wilde Sonatine mit ihren würzigen Dissonanzen das modernste Stück der Sammlung ist (aus heutiger Sicht eine Modernität, die mit Bartók, Ravel oder Roussel verglichen werden kann). Sehr schön und schwärmerisch gibt sich dann ‚Sanaton laulu’ (ein Lied ohne Worte) von Heino Kaski (1885-1957), und immer wieder dürfen wir staunen, was für einen prachtvollen Klang ein reiner Streicherkörper entfalten kann, egal ob im kraftvollen Forte oder im entrücktesten Pianissimo. Berückend ist auch jedes Mal das Solospiel des vorzüglichen Konzertmeisters Reijo Tunkkari, dessen Ton eine einzigartig beseelte Süße ausstrahlt.

Zu den Höhepunkten der Kompilation zählen insbesondere die zauberhafte, Tschaikowsky’sches Drama andeutende Elegia des eminenten Symphonikers Leevi Madetoja (1887-1947) und ‚Pohjalainen Kansanlaulu’, ein ostbottnisches Volkslied vom großen Toivo Kuula (1883-1918), dem musikalischen Helden des ostbottnischen Volks, der im Streit von einem Offizier erschossen wurde. Einmal gehört, wird man diese wunderbar sparsam arrangierte, tragisch umflorte Melodie, zumal so ergreifend und zugleich unsentimental gespielt, nie mehr vergessen. Den Abschluss bildet Väinö Haapalainens (1893-1945) Bearbeitung des Volkslied-Klassikers ‚En voi sua unhoitta poies’ (Ich kann dich nicht vergessen). Juha Kangas und sein Ostrobothnian Chamber Orchestra tragen mit intensiver Hingabe und höchster Spielkultur Sorge dafür, dass uns das gesamte Programm dieses lyrisch-nostalgischen Albums unvergesslich bleiben möge. Das Klangbild ist rund und ausgewogen, der Begleittext knapp, sachlich und übersichtlich informierend.

——CD-Details: ‚Nostalgia’. Lyrical Finnish Music for Strings Juha Kangas dirigiert das Ostrobothnian Chamber Orchestra, Reijo Tunkkari (Violinsoli & Konzertmeister)

Robert Kajanus: Berceuse (1896); Jean Sibelius: Impromptu (1894), Romanze op. 42 (1904), Presto (1894); Armas Järnefelt: Eines frühen Morgens (1900); Erkki Melartin: Canzone; Aarre Merikanto: Canzona (1934); Väinö Raitio: Romanze & Serenata (1940), Uuno Klami: Wiegenlied (1930), Sonatine (1934); Heino Kaski: Lied ohne Worte; Leevi Madetoja: Elegia op. 4 Nr. 1 (1909); Toivo Kuula: Lied ohne Worte op. 22 Nr. 1 (1910), Ostbottnische Volksweise op. 9 Nr. 2 (1909); Väinö Haapalainen: Ich kann dich nicht vergessen (1929)

Alba Records ABCD 344 (Vertrieb: Klassik Center)
Dauer: 62’36“
EAN: 6417513103441

Stöbern

Verwandtes / Ähnliches:

Archiv

Alle Artikel können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.