Bernsteins brillantes Wirken in Boston und New YorkDie Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge Xvon Christoph Schlüren • 7. Juli 2013 Diese großartige Dokumentation vor allem der frühen Jahre Leonard Bernsteins überrascht selbst hartgesottene Verehrer mit einigen Raritäten, die unbekannte Seiten des Maestro zeigen – sei es nun sein Recording-Debüt im Mai 1941 als Pianist in der dritten Nummer der Preludes and Fugues von David Diamond oder die (innerhalb dieser Kompilation klanglich bei weitem schlechteste) Aufnahme der Uraufführung von Marc Blitzsteins amerikanischer Fassung von Kurt Weills Dreigroschenoper (die ‚Ballad of Sexual Dependency’ musste ausgelassen werden…) – oder weiteres wie Irving Fines wunderbares symphonisches Streicherstück ‚Serious Song’, Carlos Chávez’ ‚Sinfonia Romántica’ (bei allem Können und aller Eigenart nicht gerade das stärkste Werk des großen Mexikaners) oder David Diamonds exzellente Achte Symphonie (von seinem Freund Diamond, den er in schweren Zeiten auch finanziell großzügig unterstützte, hat Bernstein im Studio nur die Vierte Symphonie aufgenommen). Herausragend auf dieser durchweg fesselnden 10 CD-Box sind insbesondere die Probenmitschnitte, die erweisen, welch phänomenaler Musiker Bernstein schon in seiner frühen Zeit war (als Dirigent geschult nicht nur an Koussevitzky, sondern eben auch vom so gestrengen wie vorbildlichen Fritz Reiner), und es dürfte für jeden Hörer mehr als erhellend (wenn nicht gar ‚erleuchtend’ sein), zuzuhören, wie er als Solopianist in Mozarts B-Dur-Konzert KV 450 oder in Ravels G-Dur-Konzert mit dem Orchester arbeitet, und natürlich, wie er Schostakowitschs Siebte, Mahlers Auferstehungs-Symphonie und Messiaens Turangalîla-Symphonie so akribisch wie mitreißend erarbeitet (vor dem Messiaen-Ausschnitt ist die Stimme Serge Koussevitzkys zu hören, der mit unverkennbar russischem Akzent Messiaens Meisterwerk als die wichtigste Komposition des 20. Jahrhunderts seit Strawinskys Sacre du printemps preist und die Hörer auffordert, offen und neugierig zu sein). Viele der Bernstein’schen Aufführungen zeichnen sich hier durch eine geradezu umwerfend extrovertierte Entfesselung der musikalischen Energien aus, sei es nun die sehr frühe zweite Symphonie von Schumann, Schostakowitschs ‚Leningrader’, Mahlers Zweite, Bartók (wild!), seine eigene ‚Age of Anxiety’-Symphonie (die zweifellos als Ganzes eines seiner besten Werke ist) mit dem fulminanten Kollegen Lukas Foss am Flügel, ein überbordender Sacre du printemps, Kurt Weill/Blitzsteins musikantisch ausgelassene Three-Penny Opera, Copland, Harris (sehr schönes Stück polyphon-moderner Nationalromantik!), Fine, Pistons filigran gearbeitetes Concerto for Orchestra, Chávez oder Diamonds durchaus hinreißende Achte Symphonie. Nicht weniger fesselnd geraten Bernsteins Aufführungen als Dirigent am Klavier – in einem grandiosen Ravel-Konzert in G-Dur und in dem so unmittelbar das Wesentliche erfassenden Zugang zu Beethovens Erstem Klavierkonzert. Auch als Begleiter in vier Mahler-Liedern (Ich atmet’ einen linden Duft, Ich bin der Welt abhanden gekommen, Das irdische Leben, Um Mitternacht) atmen er und seine ihm längst alle Wünsche von den Händen ablesende New Yorker Mannschaft bewundernswert einfühlend und ohne jede Eile mit der sich auf der Höhe ihrer Kunst befindenden Jennie Tourel. Ein absoluter Gipfelpunkt der Zusammenarbeit mit dem New York Philharmonic sind die Mitschnitte der Columbia-Aufnahmesessions aus der Boston Symphony Hall vom 20. Oktober 1959 von Coplands vertrackter Billy the Kid-Musik und ganz besonders der Fünften Symphonie von Schostakowitsch – der Kopfsatz ersteht auf eine unnachahmlich magische Weise, es brauchte nur zwei Schnitte in dieser monumentalen Architektur, und es sollte danach niemanden mehr wundern, warum die daraus resultierende Aufnahme solch legendären Status erreicht hat. Hier sind wir bei der Aufnahme live dabei. Die Bookletnotes von Nigel Simeone, leider nur als CD und nicht als Heft enthalten, sind umfassend, exzellent geschrieben und überquellend im Reichtum an relevanter Information – das ist vorbildlich, und so sollte so etwas grundsätzlich gemacht werden. Und die Remastering-Experten von West Hill Radio Archives haben fantastische Arbeit geleistet. Man kann diese Anthologie von Bernsteins Wirken mit den Toporchestern in Boston (1946-49) und New York (1950-61) nur rundum uneingeschränkt jedem empfehlen, der seinen Horizont erweitern und einen intensiven Nachhall dessen erleben will, was den eminentesten Dirigenten und Musiker, den Amerika im 20. Jahrhundert hervorbrachte, ausmachte. ——-
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