Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge V
von Christoph Schlüren • 3. Mai 2013
BLICK IN DEN SPALT DER REINEN GEGENWART
Unter den Komponisten unserer Zeit ist der Schwede Anders Eliasson eine absolute Ausnahmeerscheinung. Er gehört nicht nur keiner kategorisierbaren Richtung an. Es ist sogar so, dass sich die Wurzeln seines Schaffens, seiner Tonalität, seines Stils, seiner geistigen Ausrichtung nirgendwo verorten lassen. Wenn es das vielleicht höchste Ziel der „fortschrittlichen“ Komponisten spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg war und ist, etwas wirklich Neues zu manifestieren (welchen Sinn auch immer dieses Bestreben haben mag), so hat Eliasson wie kein anderer, den wir kennen, dieses Ziel verwirklicht – und dies wahrhaft nebenbei, ohne sein Wollen darauf zu richten, und für die oberflächliche Betrachtung unerkennbar.
Als Kind auf der Trompete ausgebildet und schnell zu einem Jazz-Crack herangewachsen, war es dann vor allem anderen die Begegnung mit der Musik Johann Sebastian Bachs, die seine künstlerische Haltung, seinen Anspruch an das, was uns Musik zu geben habe, prägte. Die Priorität: die Musik muss immer im Fluss sein, sie ist grundsätzlich Bewegung, in allen wesentlichen Parametern, und niemals wird sie statisch. Sie wirkt aus den ihr innewohnenden Kräften heraus, die der Komponist hörend entfesselt, und es ist eine komplette Verfehlung seiner Aufgabe, wenn er versucht, die Musik mit seinem Willen zu steuern. Er setzt nur den Anfang, den ihm die Inspiration zuspielt, sozusagen willentlich, und dann setzt er um, was ihm die musikalische Dynamik befiehlt – wie Jean Sibelius es schon so treffend gesagt hatte, er sei „der Sklave meiner Themen“. Die wesentlichen Parameter, sagt Eliasson wie die großen Protagonisten der musikalischen Traditionen, sind nicht mehr als drei, und aus ihrem Ineinanderspielen entsteht die prozessuale Energie, die ihre Form sucht: „H2O – Melodie, Harmonie, Rhythmus.“
Klangfarben, Oktavlagen und Lautstärkegrade sind sekundäre Parameter, die sich nicht selbständig strukturieren lassen, auch wenn die Organisation auf dem Papier für Theoretiker den Anschein erwecken mag. Und das Tempo ergibt sich aus der Struktur als Gesamtem, und ist zugleich die Bedingung, dass wir Beziehung innerhalb des Ganzen erleben können.
Eliassons Schaffen ist überwiegend instrumental, doch verdanken wir ihm auch großartige Werke mit Gesang, so das symphonische Oratorium ‚Dante Anarca’, die oratorische Symphonie ‚Quo vadis’, die Monologoper ‚Karolinas Sömn’ und ein paar weitere. Freilich lässt er auch die Instrumente singen, das Verhältnis ist hier durchaus analog zu dem in Bachs Werken. Eliasson ist der führende Symphoniker dieser Epoche, die nicht nur weitestgehend vergessen hat, was ‚symphonisch’ bedeutet (zusammenklingend, in Raum UND Zeit), sondern darin vor allem eine überlieferte Form abfeiert in dem Versuch, sie „aufs Neue zu beleben“. Totes beleben zu wollen freilich ist, man frage Biologen, Mediziner, ein sinnloses Unterfangen. Es muss lebend empfangen werden.
Die große Entdeckung, die Eliasson gemacht hat für nachfolgende Generationen, könnte man so charakterisieren: Die besessene Suche des 20. Jahrhunderts nach einem neuen gültigen Tonsystem, das die Organisation der Mehrstimmigkeit aus der Abhängigkeit von der alten, ausgereizten Dur-Moll-Tonalität herausführen sollte, war bestimmend, bis die ‚Anything-Goes’-Resignation der Postmoderne in den Vordergrund trat. Schönberg gebärdete sich als neuer Moses, der mit der Zwölftonmethode ein Garantiesystem für ‚Atonalität’ zur musikalischen Weltherrschaft führen wollte, das in seinen Grundlagen alles andere als atonal war und von seinem Schüler Anton Webern zu hermetischer Vollendung gebracht wurde. Andere, wie beispielsweise Messiaen oder Boulez, suchten weiter nach einer Tonorganisation, die die alten Zusammenhänge negieren und mit neuen, künstlich arrangierten Formeln sich bilden sollte. Doch alle Spekulation sollte zu keiner grundlegend neuen Entdeckung führen, sondern zu nichts als erklügelten Sonderfällen wider die altbewährte Tonalität.
Eliasson entdeckte schlicht einen Spalt, durch den er den Blick in eine andere Welt erhaschte, in welcher sich aufgrund der gleichen Gesetze die Beziehungen in alternativer Verwandtschaft aufbauen, eine Art ‚triangulatorischer Harmonik’, die an der nächstliegenden Verwandtschaft über die Quinte vorbei die kleine Terz als Primärverbindungsglied anzieht. Daraus entsteht vollkommen natürlich eine Musik, die in keinem bestehenden Gravitationszentrum mehr zur Ruhe kommt, die immer in einem schwebenden oder, wenn der Komponist die Kraft besitzt, die Kräfte zu bündeln, in einem fliegenden Zustand ist, der sie zwischen meist drei gleichzeitig wirkenden, ständig wechselnden Anziehungsfeldern hindurch navigiert. Es ist wirklich die Erfahrung ganz anderer Energien und Räumlichkeiten, die der Hörer in dieser Musik macht, sobald er den ‚Einstieg’ gefunden hat. Und den Einstieg finden bedeutet hier: absolute Gegenwärtigkeit, das Loslassen jeglicher Sentimentalität, also jener Trägheit, die mich dazu verführt, in bestimmten Zuständen, Empfindungen, Stimmungen verweilen zu wollen. Sei ein aktiv empfangender Hörer! Folge dem Jetzt!
Das eröffnende Streichorchesterwerk ‚Ein schneller Blick … ein kurzes Aufscheinen’ in einem Satz, der sich in drei Sätze (schnell – langsam – schnell) gliedert, entstand 2003. Es ist nach Eliasson-Maßstäben ein eher lichtes, in den Details einfacheres Werk, gleichwohl fürs konzentrierte Hören von höchstem Anspruch, und vom New Yorker Arcos Orchestra unter John-Edward Kelly live fulminant realisiert. Kelly ist, wie auch der finnische Orchesterleiter Juha Kangas (Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra), einer der Musiker, die schon vor Jahrzehnten die singuläre Bedeutung dieser Musik erkannten und sich seitdem stets und überall dafür einsetzen. Das Poem für Altsaxophon und Klavier (1988) spielt Kelly in astreiner Symbiose mit seinem langjährigen Duopartner Bob Versteegh, mit schlackenfrei edler Tongebung und charakteristischem Ausdruck.
Die Dritte Symphonie von 1989 trug ursprünglich auch den Beititel ‚Sinfonia concertante’ und ist ausdrücklich kein verkapptes Solokonzert für den Altsaxophonisten, sondern ein fünfsätziges Werk für Orchester mit solistischem Saxophon als durchgehendem Akteur auf der Szene. Diese Symphonie ist, für die meisten Hörer, unmittelbar zu erleben als ein dramatisch mitreißendes Werk von extremen Gegensätzen, machtvollen, dabei stets auch irregulär überraschend aufgebauten Steigerungen und Zuspitzungen, intensiv inniger Sanglichkeit, frenetischer Ausgelassenheit, immer wieder auf dem Sprung „von der Klippe“, und phänomenal orchestriert. Und es gibt keinen Komponisten, dessen Orchester „besser“ klänge als das von Eliasson. Die Darbietung von Widmungsträger Kelly und dem Finnischen RSO unter Segerstam ist von großer Kraft, Präzision und Intensität. Die fünf Sätze der Dritten Symphonie tragen die Titel: Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Beben, Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (die Nebel); der Höhepunkt des Werkes liegt am grenzüberschreitenden Übergang der erregten Fremiti zum inneren Schmerz des Lugubre, dessen Thema eine wundersame Verwandtschaft zum Todesthema von Anton Bruckners Achter Symphonie aufweist – in diesem Moment offenbar archaischer Ausdruck einer Verwandtschaft der Seelenzustände. Diese Musik transzendiert ihr Material, und auch von daher ist die Frage nach dem verwendeten Material sekundär, die Frage des ‚Wie’ hingegen von höchstem Interesse. Der Hörer braucht kein Vorwissen, doch umso mehr Gegenwärtigkeit.
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CD-Details:
Anders Eliasson
3. Symphonie für Orchester mit obligatem Altsaxophon solo (1989), ‚Ein schneller Blick … ein kurzes Aufscheinen’ für Streichorchester (2003), Poem für Altsaxophon und Klavier (1988)
John-Edward Kelly (Altsaxophon), Bob Versteegh (Klavier), Arcos Orchestra (dir. John-Edward Kelly), Finnish Radio Symphony Orchestra (dir. Leif Segerstam)
NEOS Music 11301 (Vertrieb: Codaex)
Dauer: 54’51“
EAN: 4260063113017