Die Kolumne: "Listening for the-listener": Christoph Schlüren - Folge IV
von Christoph Schlüren • 22. April 2013
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Michael Dalmau Colina, geboren 1948 in Charlotte als Sohn eines Kubaners und einer US-Amerikanerin, ist ein wahrer Allround-Musiker von gediegenster klassischer Ausbildung über Jazz, Blues & Soul bis hin zur Weltmusik vor allem Lateinamerikas mit karibischem Schwerpunkt, und in seinen Kompositionen schlägt sich das auf höchstem technischen und außergewöhnlich inspiriertem Niveau nieder. Ein wahrer Beherrscher des großen wie auch des kleindimensionierten Orchesters, verwegen, immer effektbewusst und darin effizient instrumentiert (bis hin zu exotischen Instrumenten wie Tabla oder Sirene), stilistisch ein äußerst vielseitiger Craftsman des Eklektizismus im besten Sinne. Die Musik ist durchgehend tonal, auch in oft schrillsten Dissonanzen, also stets in zusammenhängenden Einheiten authentisch empfunden und brillant realisiert. Alles mutet an wie klangfilmische Inszenierungen von äußerster Geschmeidigkeit und Flexibilität, stets entsteht ein schwungvolles Drama, in dem die essenziellen musikalischen Parameter – also Rhythmus, Melodie und Harmonie – niemals ‚aus der (Zusammenhang stiftenden) Rolle fallen’. Puristen eines sogenannten ‚fortschrittlichen Denkens’ kann so etwas durchaus ein Greuel sein, doch Musiker und unvorbelastete Hörer lieben derlei umso mehr. Solche Musik könnte eine wahre Aufwertung für unsere KlassikRadio-geprägte Rundfunklandschaft sein, anstatt uns mit billigen Potpourris aus dem besten wie billigsten Mainstream zuzuschallen. Hier ist alles sofort zu begreifen, und doch ist es nicht das sowohl sattsam Bekannte als auch überwiegend lieblos Heruntergenudelte. Denn auch Dirigent Ira Levin ist ein, wenn auch hierzulande kaum wirklich bekannter, profunder Meister seines Fachs, der den fantastischen Inszenierungen im Verbund mit dem hochprofessionellen London Symphony Orchestra die gebotene Bodenhaftung beschert.
Michael Colinas so grellbunte wie reflektierte Orchestermusik ist bisher auf zwei CDs bei dem Label Fleur de Son aus Buffalo erschienen, das jetzt neu im weltweiten Vertrieb von Naxos und damit auch in Deutschland erhältlich ist. Colina schreibt in beiden Booklets sehr anschauliche Einführungen zu allen Werken, wobei er besonders auf die inspirativen Hintergründe eingeht, auf die literarischen und künstlerischen Bezüge im weiteren Sinn. Da gibt es drei klassisch dreisätzige Solokonzerte für Violine, Gitarre und Flöte, außerdem eine ausgedehnt zweisätzige Fantasie für Violine und Orchester. Auch die Solisten sind vorzüglich, und die ukrainische Geigerin Anastasia Khitruk spielt schlicht mitreißend.
Als größere Form vermag beispielsweise das Violinkonzert ‚Three Cabinets of Wonder’ zu überzeugen, welches im ersten Satz von Skizzen Fanny Mendelssohn-Hensels ausgehend den Versuch darstellt, sie so zu vollenden, wie dies Mendelssohn getan hätte, lebte er in unserer Zeit… Dann ein mysteriöser Mittelsatz, der in shärischen Schattierungen die Wandlung des Mörders zum Liebenden des Buddha verklärt. Oder nehmen wir das Gitarrenkonzert ‚Goyescana’ mit seinen Latin & Spain-Elementen, seinen Granados-Vignetten, seiner herrlichen Hommage an den Tango, der wundervoll nostalgischen Serenata. Nicht geringer attraktiv das Flötenkonzert ‚Isles of Shoals’ als Huldigung an eine tragisch verschwundene Künstlerkolonie vor der amerikanischen Ostküste, oder die temperamentgeladene Fantasia ‚Baba Yaga’ mit ihren märchenhaften Gestalten und Gehalten. Darüber hinaus gibt es das transzendental von Gegensätzen inspirierte Streicherwerk ‚The Unbearable Lightness of Being’ als philosophisch grundierte Parmenides-Kundera-Exkursion, die dunkel glühende, leidenschaftlich romantische Goya-Tondichtung ‚Quinta del Sordo’, und, vielleicht die Krönung des Ganzen, den Reigen von schockierenden Goya-Bildern gleichen Titels in elf kurzen, prägnant organisierten Sätzen, die ein faszinierend geschlossenes Ganzes bilden und Ira Levin, dem Dirigenten der Aufnahme, gewidmet sind: ‚Los Caprichos’ – ein Hexenküchenkabinett musikalischer Gesten und Verläufe in evokativ fesselndem Orchestergewand, ein Meisterwerk stilistischer Vielfalt, die bei aller Kontrastfreude doch auf einem gemeinsamen Handlungsstrang ausgerichtet ist, und die ob der blöden Verlegenheits-Schublade ‚Postmoderne’ unserer verbildeten Meinungsbildner eigentlich nur verächtliche Lacher hervorbringen dürfte. Das ist fulminante Musik – nein, sie ist nicht „neu“, aber doch persönlich und unerhört gut gemacht, im Detail wie in den wild kollidierenden Bezügen außerdem von nicht zu bestreitender Eigenart. Auch wenn ich zugeben muss, dass es mir hier wie beispielsweise auch beim guten alten Zauberer Franz Liszt in seinen Tondichtungen geht: Die Schilderung des Grauens kommt bei mir dann doch nicht wirklich als solche an, eher als schaudernde subjektive Faszination, als lustvoll überbordende Handlung aus einer Parallelwelt, deren Abgründe mehr anziehen als abschrecken – anders als beispielsweise bei Schostakowitsch oder Pettersson, um mal zwei Großmeister zu nennen, die uns mit ihrem Momentum wahrlich in Abgründe hinein reißen und dort nicht mehr loslassen. Aber so was war hier nicht gemeint, Momentum ist in diesen Miniaturen naturgemäß nur auf kurze Strecken gegeben, es handelt sich um kurz angerissene Einblicke, die in Wechselwirkung miteinander geraten und ein reiches Panorama unterschiedlichster Strukturen und Stimmungen entfalten, und es soll unbedingt so sein, wie es ist. Lassen Sie sich überwältigen, freuen Sie sich an der ungeheuren Bandbreite dieser Musik, falls Sie den Montagepunkt unmittelbarer Naivität noch in Ihrem System entdecken können.
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CD-Details:
Michael Colina
‚Three Cabinets of Wonder’
Violinkonzert ‚Three Cabinets of Wonder’, Gitarrenkonzert ‚Goyescana’, ‚Los Caprichos’ (11 Prints for Orchestra)
Anastasia Khitruk (Violine), Michael Andriaccio (Gitarre), Ira Lavin dir. London Symphony Orchestra
Fleur de Son Classics FDS 57999 (2011; Vertrieb: Naxos)
Dauer: 61’41“
EAN: 856092001995
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Michael Colina
‚Baba Yaga’
Fantasia für Violine und Orchester ‚Baba Yaga’, ‚The Unbearable Lightness of Being’ für Streichorchester, Symphonische Dichtung ‚Quinta del Sordo’, Flötenkonzert ‚Isles of Shoals’
Anastasia Khitruk (Violine), Lukasz Dlugosz (Flöte), Ira Levin dir. London Symphony Orchestra (Dirigent in ‚Isles of Shoals’: Ransom Wilson)
Fleur de Son Classics FDS 58018 (2012; Vertrieb: Naxos)
Dauer: 69’31“
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