Go to content Go to navigation Go to search

The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

"Manchmal gehe ich mit Alfred Brendel Mittagessen"

Ein Interview mit dem Pianisten Thomas Hell

von Rainer Aschemeier  •  3. Dezember 2012


ⓒ: jo titze photodesign Hannover

Vor wenigen Wochen hatten wir die jüngste CD-Veröffentlichung des Pianisten Thomas Hell (Ligeti: Etudes/Wergo) auf dieser Seite rezensiert, nun gewann erst vor wenigen Tagen eine weitere CD unter der Beteiligung Hells (Korngold: Kammermusik/tacet) den Preis der Deutschen Schallplattenkritik.
Wäre es also übertrieben zu sagen, dass Thomas Hell zurzeit zu den interessantesten deutschen Pianisten überhaupt gehört? Ich denke nicht! Seine CDs sprechen bereits eine beredte Sprache, und im Exklusivinterview mit www.the-listener.de hatte der Künstler nun die Möglichkeit, selbst zu Wort zu kommen…

The Listener: Herr Hell, Sie gelten als Spezialist für die Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, dennoch war ihre erste CD-Veröffentlichung der Musik Robert Schumanns und Max Regers gewidmet. Wie kam es dazu?

Thomas Hell: Die Bach-Variationen op. 81 von Max Reger und die Humoreske op. 20 von Robert Schumann haben mir schon immer sehr viel bedeutet – und besonders die so poetische und phantasievolle Klaviermusik von Schumann bewundere ich sehr. Ich hatte mich lange mit diesen beiden Werken beschäftigt und sie oft im Konzert gespielt. Als sich die Gelegenheit ergab, mit Andreas Spreer vom Label TACET eine Aufnahme zu machen, habe ich mich dann für diese beiden Werke entschieden. Traditionelles Repertoire und Klaviermusik des 20./21. Jahrhunderts stellen für mich auch keinen Gegensatz dar, ganz im Gegenteil: Ich versuche, mich mit beidem gleichermaßen intensiv zu beschäftigen und finde das außerordentlich bereichernd.

TL: Ihre jüngste CD mit Ligeti-Etüden für WERGO wurde allerorten sehr positiv aufgenommen. Sie gelten als Spezialist für die trois livres der Ligeti-Etüden, spätestens seit Sie die Stücke 2008 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik live aufgeführt haben.

Würden Sie also sagen, dass der Aufnahme bei Wergo (die Rezension zu der CD haben wir anlässlich dieses Interviews noch einmal in unserer „Rezensionsecke“ nach vorn geholt, bitte bei Interesse dort nachschlagen!) mindestens vier Jahre Vorbereitung vorausgingen? Oder waren es sogar noch mehr?

TH: Ich habe Mitte der 1990er-Jahre die Etüden von Ligeti kennengelernt. Damals gab es nur den ersten Band als Faksimile bei Schott, und seither haben mich diese wunderbaren Stücke gefesselt. Die Études pour piano waren so neu, so originell und zugleich so pianistisch, dass sie mich sofort angesprochen haben. Den gesamten Zyklus der 18 Etüden habe ich dann ab 2007 häufiger im Konzert gespielt. Wenn man so will, geht der Aufnahme also eine recht lange Zeit der Vorbereitung voraus, was ihnen bestimmt gut getan hat. Ligeti wäre im Jahr 2013 ja 90 Jahre alt geworden. Ich finde es schön, dass die Aufnahme rechtzeitig zu diesem Jubiläum fertig geworden ist.

TL: Inwieweit hat sich Ihre Sicht auf beziehungsweise Ihre Interpretation des Werks in den letzten Jahren fortlaufender Auseinandersetzung mit ihm gewandelt?

TH: Das ist bei den Ligeti-Etüden eigentlich nicht anders als bei allen bedeutenden Werken des Repertoires. Durch die lange Beschäftigung und häufige Aufführungen im Konzert verändert sich die Sicht auf manche Dinge: Technisch vertrackte Stellen verlieren ihren Schrecken und man bekommt einen wesentlich besseren Überblick über die teilweise doch ziemlich komplexen Stücke. Ich hatte mich auch analytisch sehr mit den Stücken auseinandergesetzt und in Tokyo auf Einladung verschiedener Musikhochschulen Analyse-Seminare zu den Etüden gehalten.

TL: Ist Ligetis Musik überhaupt im klassischen Sinne „interpretationsbedürftig“? Nicht wenige Komponisten des 20. Jahrhunderts haben ja durch sehr detaillierte Vortragsbezeichnungen dem Aufführenden so enge Grenzen gesetzt, dass man kaum noch von Interpretation im klassischen Sinne sprechen kann. Wie ist das bei Ligetis Etüden?

TH: Wenn man die verschiedenen Aufnahmen, die inzwischen von diesen Werken erschienen sind, vergleicht, fallen doch sofort große Unterschiede auf. Auch noch so detaillierte Vortragsbezeichnungen werden von jedem ein wenig anders interpretiert werden. Und Stücke wie „Arc-en-ciel“ oder „Cordes à vides“, die stellenweise der Tradition sehr nahe stehen, lassen sehr viel Raum zur Interpretation. Da gibt es bei den Aufnahmen beispielsweise große Tempounterschiede – obwohl das Tempo ja von Ligeti vorgeschrieben ist – und auch die Pedalbehandlung ist bei jedem Interpreten anders.

TL: Ligetis Etüden sind ein herausragendes Kunstwerk, aber erfüllen Sie auch noch den klassischen Sinn der Etüde, nämlich den, ein Übungsstück zu sein?

TH: Dieselbe Frage könnte man auch angesichts der Etüden von Debussy, Bartók, Szymanowski, Messiaen etc. stellen. Sie alle sind auch Etüden im kompositorischen Sinne. Der Komponist stellt sich einer bestimmten Aufgabe, indem er sich zum Beispiel auf bestimmte Intervalle beschränkt oder sich einer besonderen technischen oder rhythmischen Schwierigkeit annimmt. Aber selbstverständlich stellen gerade die Études pour piano auch große technische Anforderungen an den Interpreten, etwa die schnellen Doppelgriffpassagen in der neunten Etüde „Vertige“, die Repetitionen im „Zauberlehrling“ oder die ständigen Akzentverschiebungen, die fast jede Etüde durchziehen, z. B. in der ersten Etüde „Désordre“. Übungsstücke“ im landläufigen Sinne aber sind sie nicht – wie auch die übrigen großen Etüden-Zyklen seit Chopin es nicht sind. Der Interpret muss bereits über die technischen Voraussetzungen verfügen, sonst sind diese Etüden nicht zu meistern.

TL: Eine weitere CD, bei der Sie beteiligt waren und die 2012 erschienen ist, war die CD mit Kammermusik Erich Wolfgang Korngolds beim tacet-Label.

Sie wurde unlängst mit dem Quartalspreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Wie bedeutsam sind solche Preise und Auszeichnungen für Sie persönlich?

TH: Ich freue mich sehr über solche Auszeichnungen und hoffe, dass dadurch Interesse an der Aufnahme, vor allem aber an der aufgenommenen Musik geweckt wird. Die beiden Stücke auf der Korngold-CD, das Streichsextett op. 10 und das Klavierquintett
op. 15, sind ja regelrechte Entdeckungen, die viel öfter gespielt werden sollten.

TL: Alfred Brendel hat über Ihr Spiel einmal gesagt: „Intelligenz und Virtuosität finden hier zusammen.“ Ist so eine Aussage nicht schöner als jeder Preis?

TH: Ja, das ist natürlich toll, von einer solchen Musikerpersönlichkeit Anerkennung zu bekommen. Ich hatte ihm Aufnahmen von mir geschickt, daraufhin hat er mich eines Nachmittags angerufen, und so ist der Kontakt entstanden. Gelegentlich treffen wir uns zum Mittagessen, und die Gespräche mit ihm über Musik und Literatur bedeuten mir sehr viel.

TL: Korngold ist eine musikalische Ausnahmeerscheinung des 20. Jahrhunderts, nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Lebenslaufs, den man auf die kurze Formel bringen könnte: Vom Wunderkind der Oper und Kammermusik bis hin zum Hollywood-Filmmusikkomponisten. Ich sehe ihn vielmehr auch als ein sehr individuelles „Alternativmodell“ zum Expressionismus der 1910er- und 1920er-Jahre. Seine Musik ist offenbar tief in der Spätromantik „geerdet“, dennoch ist er wohl irgendwie ein Vergangenheitsbewältiger und nicht ein Vergangenheitsverwalter. Wie sehen Sie das?

TH: Ich finde vor allem immer wieder die extreme Farbigkeit und den harmonischen Reichtum von Korngolds Werk faszinierend. Das Klavierquintett op. 15 beispielsweise, eine Komposition aus den frühen 1920er-Jahren, hat eine ganz erstaunliche Reife und ist von so überragender Qualität und Schönheit, dass es überhaupt nichts ausmacht, dass es im Vergleich zu anderer Musik aus dieser Zeit im üppigen Klangideal der Spätromantik seine Wurzeln hat.

TL: Mit den Labels EIGENART, TACET und WERGO haben Sie von Beginn an bei Plattenfirmen aufgenommen, die nicht nur für ihr hochwertiges Programm bekannt sind, sondern auch für ihre Leidenschaft, ihren Produktionen einen außergewöhnlich guten Aufnahmeklang angedeihen zu lassen. War dies gewissermaßen Zufall oder haben Sie von Anfang an nach einer Firma gesucht, die Ihnen auch optimalen Aufnahmeklang garantiert?

TH: Zu Andreas Spreer von TACET bin ich durch Empfehlung einer Kollegin gekommen, und war von Anfang an sehr glücklich mit der hervorragenden Klangqualität seiner Aufnahmen.
Die Aufnahme der Ligeti-Etüden für WERGO haben wir in der Siemens-Villa in Berlin gemacht. Sie ist in Zusammenarbeit mit Deutschlandradio Kultur entstanden. Mit dem Tonmeister dieser Aufnahme, Eckhard Glauche, habe ich intensiv auch beim Schnitt zusammengearbeitet – was bei den Ligeti-Etüden wirklich harte Arbeit ist – und wir sind, wie ich finde, zu einem klanglich sehr schönen Ergebnis gekommen.

TL: Einen wie hohen Anteil an einer guten Liveaufführung hat Ihrer Meinung nach eigentlich das Instrument selbst, sprich: Der Konzertflügel, der Ihnen zur Verfügung steht?

TH: Das Instrument spielt schon eine sehr große Rolle. Wenn das Instrument gut ist, kann man viel inspirierter spielen und seine Vorstellungen zum Klingen bringen.

TL: Gab es schon Konzerte, bei denen Sie hinterher gedacht haben: „Heute war es noch besser als sonst, weil ich so ein tolles Instrument zur Verfügung hatte“, oder umgekehrt: „Es hätte heute besser sein können, wenn mir nicht der Flügel einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte“?

TH: Ja, natürlich, das kann vorkommen – im guten und schlechten Sinne. Es kann schon sehr frustrierend sein, wenn das Instrument Mängel aufweist was das Pedal, die Mechanik angeht, oder wenn es schlecht gestimmt ist. Unvergesslich wird mir ein Konzert bleiben, wo der Flügel zwar gestimmt war, der Klavierstimmer aber rätselhafterweise übersehen hatte, dass das Pedal nicht richtig angebracht war…
Gottseidank war das eine Ausnahme!

TL: Ich als Hörer bedauere es etwas, dass man bei beinahe allen Klaviermusik-CD-Produktionen der letzten Jahre nur noch den typischen Steinway-Sound serviert bekommt. Dabei ist gerade die Vielfalt der Klaviercharaktere doch so wunderbar: Steinway, Bösendorfer, Fazioli, usw. – alle klingen anders… Warum stehen so viele Pianisten auf den typischen Steinway-Sound? Ist das echte Überzeugung oder zum Teil auch Marketing?

TH: Ob das ein Teil des Marketings ist, kann ich nicht sagen. Ich finde jedoch – wie sehr viele meiner Kollegen auch – dass die Steinway-Flügel nach wie vor ganz hervorragende Instrumente sind, außerordentlich zuverlässig und ideal für eine Aufnahme, gerade auch im Bereich der zeitgenössischen Musik.

TL: Abschließend: Welche Projekte stehen bei Ihnen in nächster Zeit an und was wären Ihre Wunschprojekte für die Zukunft?

TH: Im Moment arbeite ich am Klavierkonzert von Ligeti, das ich gerne aufführen möchte. Es hat vom Klaviersatz her große Ähnlichkeit mit den Etüden, man bewegt sich also auf bekanntem Terrain, und es ist eines der faszinierendsten Klavierkonzerte, das ich kenne. Wunschprojekte für die Zukunft gibt es viele: die Klaviermusik von Frederic Rzewski fasziniert mich seit langem, ebenso wie die von Charles Ives (seine Concord-Sonate habe ich oft gespielt, jetzt wäre das übrige Werk dran), die Etüden von Unsuk Chin gefallen mir…
Außerdem zieht mich seit einiger Zeit die Musik des Rachmaninoff-Zeitgenossen Nikolai Medtner in den Bann. Meine Interessen sind nicht nur auf die Neue Musik beschränkt.
Im Gegenteil: Ich möchte gern mehr Programme spielen, die die Neue Musik – Auftragswerke oder „Klassiker“ der Neuen Musik – in Bezug zum traditionellen Repertoire setzen, um dem Publikum die Scheu vor der zeitgenössischen Musik zu nehmen und zu zeigen, wie toll und absolut lohnenswert diese Musik sein kann. Das halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben eines Interpreten in der heutigen Zeit.
————————————————
Details zu den im Interview angesprochenen CDs:

György Ligeti: Études pour piano
WERGO – 2012
Vertrieb: Note 1
Katalog-Nr.: WER 6763 2 / EAN: 4010228676327

Erich Wolfgang Korngold: Kammermusik
tacet – 2012
Katalog-Nr.: TACET198 / EAN: 4009850019800

Das Interview mit Thomas Hell fand im November 2012 statt.

Stöbern

Verwandtes / Ähnliches:

Archiv

Alle Artikel können im Archiv nachgeschlagen werden. Dort ist auch eine gezielte Suche möglich.