Der Herbst ist da!Zeit für neue CDs mit Musik von Jean Sibelius...von Rainer Aschemeier • 13. Oktober 2012 Pünktlich zu den ersten Nebeltagen des bislang so gar nicht goldenen Oktobers gibt es Futter für die Fans der nordischen Musik des Finnen Jean Sibelius. Da dürften manche Augenbrauen nach oben schnellen: Es gibt viel zu entdecken, unter anderem eine der letzten Aufnahmen eines Altmeisters vor dessen Karriereende – ...und die eines Ur-Uraltmeisters! PAAVO BERGLUND Beginnen wir mit dem Altmeister: Der Finne Paavo Berglund war bis zu seinem Tod im Januar 2012 seit vielen Jahren als einer der bedeutendsten Sibelius-Interpreten bekannt. In den 1970er-Jahren erschien seine erste Gesamteinspielung der Sibelius-Sinfonien mit dem Bournemouth Symphony Orchestra, das er damals leitete. Ab Mitte 1980er folgte die bis heute wegweisende Gesamteinspielung der Sibelius-Sinfonien mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki auf EMI Classics und belegt seitdem die unangefochtene Topposition auf den Bestenlisten zahlreicher „Sibelianer“. Etwas weniger bekannt ist Berglunds Gesamteinspielung mit dem Chamber Orchestra of Europe aus den 1990er-Jahren, die auf dem finnischen Nationallabel „Finlandia“ erschien. Das war einerseits ein Schock für viele alteingesessene „Sibelianer“, erinnerte jedoch zuweilen frappierend an die von Jean Sibelius ausdrücklich hoch gelobten Ersteinspielungen dieser Sinfonien aus der Hand des finnischen Dirigenten und Komponisten Robert Kajanus aus den frühen 1930er-Jahren, die bis heute so etwas wie den Heiligen Gral der Sibelius-Diskografie bilden. Ich gebe zu: Mir ist der „fette“ Berglund-Sound seiner Frühzeit lieber. Doch diese Einspielungen aus den 2000er Jahren bieten spannende, neue und vor allem strukturell interessante Einblicke in die wunderbaren Sibelius-Sinfonien mit einem glänzend aufgelegten London Philharmonic Orchestra, das hier auf diesen Live-Aufnahmen seine Qualitäten voll zur Geltung bringen kann: Es beweist, dass es viel mehr ist, als der „kleine Bruder“ des London Symphony Orchestra. Rein spieltechnisch sind diese Einspielungen mehr als überzeugend. Sie sind in Anbetracht der Live-Situation beeindruckend makellos aufgeführt und auch klanglich nicht von schlechten Eltern eingefangen worden – ...wofür unter anderem der arrivierte Tonmeister Mike Hatch gesorgt hat, der sonst für DECCA, Naxos, hyperion und andere namhafte Labels seine Künste darbietet. ROBERT KAJANUS Erfreulicherweise erschien diesen Monat auch eine klanglich wahrhaft sensationelle Neuauflage der Ersteinspielung von Sibelius‘ erster Sinfonie aus der Hand des bereits erwähnten Robert Kajanus. Er spielte zwischen 1930 und 1932 die Sinfonien Nr. 1, 2, 3 und 5 sowie einige der populären Sinfonischen Dichtungen des finnischen Komponisten für die seinerzeit noch junge Schallplattentechnologie ein. Dies war damals nicht nur eine muskalische und technologische Pionierleistung, sondern auch eine politische Angelegenheit höchsten Ranges: Die Schallplattenaufnahmen erfolgten im höchstamtichen Auftrag der finnischen Regierung, die die beachtliche Summe von 50.000 Finnmark dafür bereitstellte. Jean Sibelius selbst – seinerzeit bereits als Komponist bereits verstummt und „nur noch“ als Interpret und Musiktheoretiker aktiv – betrachtete Robert Kajanus als DEN maßgeblichen Interpreten für seine Musik, als denjenigen der – in Sibelius‘ eigenen Worten – „tiefer“ und „mit mehr Gefühl und Schönheit als jeder andere“ in das sinfonische Werk des Finnen eingetaucht war.Die bis heute in legendärem Ruf stehenden Kajanus-Interpretationen mit dem London Symphony Orchestra und dem Royal Philharmonic Orchestra sind oft wiederaufgelegt worden – wobei eine Wiederveröffentlichung klanglich gruseliger war als die andere! Von üppig verknacksten Schellack-Schreckensorgien einerseits bis zu in der Höhe vollständig gekappten akustischen Platitüden andererseits mussten Sibelius-Fans bis dato berichten, wenn es um diese herausragenden Tondokumente ging. Unter den Händen des in legendenhaftem Ruf stehenden blinden Restaurators Mark Obert-Thorn sind die Kajanus-Einspielungen von Sibelius‘ erster Sinfonie sowie der sinfonischen Dichtungen „Pohjolas Tochter“ und „Tapiola“ nun in nie geahnter klanglicher Prachtentfaltung verfügbar geworden. Selbstverständlich sind diese Aufnahmen „historisch“ – auch was den Sound betrifft. Natürlich klingt hier manches nasal und blechern, natürlich war auch das Plattenknacksen und der für Schellackplatten typische „Overdrive“ an den Forte- und Fortissimo-Stellen der Einspielungen unvermeidbar. Dabei ist allerdings zu unterscheiden zwischen der Aufnahme der ersten Sinfonie, die 1930 in der Westminster Central Hall entstand und der 1932-Aufnahme der sinfonischen Dichtungen, die im legendären Abbey Road-Studio Nr. 1 der EMI entstanden. Erstere sind (gerade was die Dynamik betrifft) noch limitiert, doch die sinfonischen Dichtungen entfalten auf diesem brandneuen CD-Remastering eine schier unglaubliche Räumlichkeit und Detailtreue, wie zumindest ich es bei einer so alten Aufnahme nie für möglich gehalten hätte. Liebe Sibelius-Fans: Die Zeit des Leidens ist vorbei! Die genialen Kajanus-Deutungen liegen hier in einer Klanglichkeit vor, bei der man getrost sagen darf: Besser wird’s nicht! Die Interpretationen von Kajanus sind indes bis heute wegweisend. Er pflegte einen ziemlich „architektonisch“ wirkenden Stil, der die Sibelius-Sinfonien viel kammermusikalischer und luzider ausleuchtete, als es heute im Allgemeinen üblich ist. KAJANUS UND BERGLUND – GAR NICHT SO UNÄHNLICH… Der Spätstil eines Paavo Berglund mag hierbei als Vergleich herangezogen werden. Gerade in unserer Zeit, in der diese gewissermaßen neoklassizistische Deutung sibelianischer Sinfoniekultur gerade wieder salonfähig wird und als „innovativ“ bezeichnet wird, braucht man diese Tondokumente aus den 1930er-Jahren, die zeigen, dass es sich bei dem genannten Interpretationsansatz mitnichten um etwas „Neues“ handelt, sondern vielmehr um die „Urtextedition“ der Sibelius-Interpretation. Diese Neuauflage von Kajanus‘ Sibelius-Aufnahmen ist wirklich fantastisch und wird ihren Wert auch weitere 80 Jahre behalten. Ich persönlich favorisiere unter den historischen Einspielungen der Sibelius-Werke zwar weiterhin Toscanini, doch ist es Kajanus, der am glaubhaftesten den „Sound“ verkörpert, den Sibelius selbst bei seinen Sinfonien im Sinn gehabt haben mag. Danke, Naxos, danke!!! Kajanus conducts Sibelius, vol. 1 Sibelius – Sinfonien Nr. 5 & 6 |
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