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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Es gibt nur cool und uncool und wie Jochen sich fühlt

BLUMFELD in der Großen Freiheit 36, Hamburg, am 21. Oktober 2003

von Frank Castenholz  •  12. Januar 2004

Was soll man schon mit solchen Zeilen anfangen: „Sturm! Weh wild und frei/ sing mir Dein Lied/ zeig mir den Dreh“ – ein Shanti des Hafenchors? Oder: „Gib nicht auf – es kommt ein neuer Morgen/ Lass es raus – den Schmerz und Deine Sorgen“. Ralf Siegels letzter Grand Prix-Handstreich? Jedenfalls: wie uncool!

Tatsächlich handelt es sich vorliegend aber nicht um in Klischee eingeweichten Schlagerpop der Marke PUR oder synthetisches Romantikimitat der Marke Rosenstolz, sondern: um Lyrik von BLUMFELDs neustem Opus „Jenseits von Jedem“. Es sind solche Textauszüge, verbunden mit der recht handzahmen Produktion, die den Blick auf berührende und pointierte Dichtung wie etwa „In der Wirklichkeit“ oder „Alles macht weiter“ verstellen und die es dem Fan deutlich erschweren, seine Begeisterung gegenüber Skeptikern einigermaßen plausibel zu machen. Da hilft auch kein Hinweis auf die doppelten Böden, die Sänger und Songschreiber Jochen Distelmeyer in seiner Lyrik auslegt, auf die seitenfüllenden Lobeshymnen der F.A.Z., auf die massive Bedeutung von BLUMFELD für die deutsche Independent-Szene oder auf ihre ersten beiden Platten, als sie noch als richtig „cool“ gelten konnten und etwa von AMG (www.allmusic.com) mit Pavement in einen Vorlesungssaal gesteckt wurden … Da hilft nur eins: Den Zweifler auf ein Konzert zwingen! Denn alles was auf BLUMFELDs Platten polarisiert, wird in diesem Kontext plötzlich irrelevant. Das fängt schon bei so genannten Äußerlichkeiten an: Es führt nämlich kein Weg daran vorbei, den Herrn Distelmeyer gerne zu haben, so wie er da in weißem Hemd und Jeans steht, seine Texte ohne Rücktrittsklausel und Distanzversicherung, ohne Rücksicht auf Coolnis-Fiktionen – sozusagen post-cool – dem Mikro anvertraut, sich nach jedem (!) Lied für den Beifall aufrichtig bedankt und offensichtlich tierischen Spaß am Auftritt hat … Ein Spaß, der ohne Zweifel von gegenseitiger Natur war: Das vornehmlich alternativ-akademische Publikum im gut gefüllten Saal der Großen Freiheit 36 begleitete die musikalische Darbietung mit begeistertem Applaus wie auch einigen aufmunternden Zwischenrufen; am Pointiertesten vielleicht das von Herzen kommende „Weiter so!“, das die Stimmung zu Mitte des Konzerts treffend wiedergab. In jeder Hinsicht also ein veritables Heimspiel für die (Wahl-) Hamburger!

In der Livedarbietung transportiert Distelmeyer sein gefühltes Denken auf eine so unmittelbar ansprechende und berührende Weise, dass man sich das ganze Reflektieren, das für eine wohlwollende Rezeption der Studioaufnahmen manches Mal unvermeidbar scheint, getrost sparen kann. Das Weiche, Ungeschützte, Verletzliche, das den Klang der letzten drei CDs wesentlich prägt, wird hier zwar nicht vollends verdrängt, aber so natürlich mit einem gekonnt kantigen, gitarrendominierten Alternativrock-Sound gepaart, dass jeglicher Vorbehalt und Widerstand fällt. Der geargwöhnte Graben zwischen alten und neuen Sounds existiert nicht: alles, vom Eröffnungslied des gut zweistündigen Konzerts „Draußen auf Kaution“ (vom Meilenstein „L´ Etat et moi“) bis hin zur letzten Zugabe „Die Welt ist schön“ (von „Jenseits von Jedem“), folgte schlüssig und bruchlos aufeinander. Alles, von „Viel zu früh und immer wieder; Liebeslieder“ vom Debut „Ich-Maschine“ bis hin zur aktuellen Single „Wir sind frei“ war integraler Bestandteil dessen, was BLUMFELD als Band ausmacht, nichts war überflüssiger Fremdkörper, nichts anstrengend, prätentiös oder peinlich.

Obwohl in der Hansestadt erst das zweite Konzert der Tour stattfand, war die Band – neben Distelmeyer (an Mikro und Gitarren), Andre Rattay (Schlagzeug), Michael Mühlhaus (Bass) noch ein Gastkeyboarder sowie zeitweilig ein Bläsertrio und ein zweiter Gitarrist – glänzend eingespielt und trotzte tapfer dem anfänglich nur mittelprächtigen, verwaschenen Sound. Ihr Programm schöpfte aus allen Plattenveröffentlichungen. Von „Testament der Angst“ etwa waren die Songs 1 bis 6 in Versionen zu hören, die die Studioaufnahmen deutlich in den Schatten stellten; hervorzuheben etwa das nicht nur textlich bewegende „Eintragung ins Nichts“ oder das mitreißende „Anders als glücklich“. Unter den herausstechenden Kompositionen von „Jenseits von Jedem“ belegte vielleicht das epische „Der Sturm“, oben noch wegen seiner vermeintlichen Seefahrerromantik nur mit hochgezogener Augenbraue zitiert, am eindruckvollsten, dass der druckvolle Livevortrag die Songkonzepte Distelmeyers so zwingend umsetzt, dass für spitzfindige Textklauberei kein Raum bleibt. Zu bedauern blieb lediglich, dass das putzmuntere „Sonntag“ ausgespart wurde, obgleich es sich für eine Livepräsentation doch geradezu aufgedrängt haben müsste – zumal an diesem Abend auch die hier erforderliche Bläserunterstützung bereit gestanden hätte.

Das den Zugabenteil einleitende „1000 Tränen tief“ sang Distelmeyer wie gewohnt zur elektronischen Beatschlaufe, bis die Musiker sich nach der letzten Strophe wieder an ihre Instrumente begaben, das Playback sukzessive durch handgemachte Klänge ersetzten und nach einem kurzen, aber berückenden Gitarrensolo zum guten Schluss noch einige Takte von Madonna´s „Take a Bow“ einflochten. Grandios! Die unverzichtbare Zugabe „Verstärker“ schließlich, auf der letzten Tour noch nahezu metallisch grunge-gerockt, war diesmal mit Keyboardklängen und einigen englischen Songzitaten angereichert, aber nicht weniger geeignet, die letzten Euphoriereserven im Saal zu wecken.

Nach diesem wunderbaren Auftritt steht zu hoffen, dass BLUMFELD dem Beispiel ihrer Hamburger Kollegen „Die Sterne“ folgen und uns alsbald mit einer Liveaufnahme beehren, die ihre Spielfreude vor Publikum adäquat wiedergibt. Der Besuch eines der folgenden Konzerte sei jedem ans Herz gelegt, der den Glauben an hochqualitative, bewegende und originelle Rockmusik jenseits des „Deutschrock“-Friedhofs noch nicht aufgegeben hat. Und nur wer von einem solchen Abend wider Erwarten gänzlich unbeeindruckt bliebe, könnte tatsächlich von sich behaupten, ein wahrer BLUMFELD-Verächter zu sein.

Aktuelle Tourdaten und mehr unter:
» www.blumfeld.net
» skyeyeliner.endorphin.ch

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