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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Zukunftsweisend, altbacken oder einfach nur renitent?

Zeitgenössische US-Komponisten feiern Welterfolge mit neu-tonaler Musik - und die deutsche Klassik-Szene verschläft es!

von Rainer Aschemeier  •  15. Februar 2012

Während wohl kaum jemand abstreiten wollen würde, dass Amerika nach wie vor DER Taktgeber in Sachen Popmusik ist, nach dessen Pfeife die ganze Welt zu tanzen bereit ist, wird doch der Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Denkweise nirgendwo offensichtlicher als im Bereich der sogenannten klassischen Musik oder Kunstmusik.

Zeitgenössische, hochgradig namhafte deutsche Komponisten wie etwa Hans Zender, Wolfgang Rihm oder Hans Werner Henze werden in Amerika nur ungern (wenn überhaupt) in die Konzert- und Opernprogramme gehievt. Der Grund? Sie werden als zu „schwierig“, „abstrakt“, „künstlich“ empfunden – kurz und gut: Der Konzertveranstalter bekommt es mit der Angst zu tun. Ein Publikum, das die Musik nicht versteht, die im Konzert erklingt, ist im Musikamerika der weltweiten Finanzkrise ein realer Anlass zur Sorge, denn es könnte beim nächsten Konzert wegbleiben, seine eh immer spärlicher werdenden finanziellen Mittel woanders investieren, als in die nächste als „sperrig“ verschrieene deutsche oder europäische Musikproduktion.
Stattdessen lieben die US-Amerikaner ihre eigenen Komponisten – auch obwohl die größtenteils heute noch so komponieren, wie Aaron Copland oder (im besten Fall) Charles Ives, die „Stammväter“ der US-amerikanischen Musikmoderne.

Komponisten wie Libby Larsen, Jennifer Higdon, Peter Lieberson, Rick Sowash oder Christopher Theofanidis sind in Europa oder gar Deutschland kaum bekannt. In den USA hingegen sind sie Stars der Klassik-Szene, deren neueste Kompositionen mittlerweile weitaus heißer erwartet werden, als etwa neue Werke von Philipp Glass oder Steve Reich – deren hierzulande als „Minimalismus“ gebrandmarkter Stil es immerhin in den 1980er-Jahren noch früh genug über den großen Teich geschafft hatte, um sich als letzter breitenwirksam zur Kenntnis genommener Stileinfluss der US-Kunstmusik zu etablieren.

Dabei müsste uns in Deutschland die Tatsache, dass ein Stück wie „Rainbow Body“ von Christopher Theofanidis seit seiner Erstaufführung im Jahr 2000 inzwischen von über 100 Orchestern und Dirigenten aufgeführt worden ist, doch zu denken geben.

Tut es aber nicht!
Stattdessen reagieren wir ähnlich ignorant, wie es derzeit die Amerikaner in Bezug auf deutsche Komponisten der Moderne tun – nur auf anderer Ebene:
Philipp Glass? Minimalist! Der macht doch eh immer nur dasselbe.
Peter Lieberson? Neoromantiker! Ganz schlimm: Der komponiert ja, wie unsere Ur-Großväter.
Libby Larsen? Exotin! Wer Konzerte für Marimba komponiert, kann hierzulande kaum ernstgenommen werden.
John Cage? Ein Irrer! Kann man den überhaupt „Komponist“ nennen?
Christopher Theofanidis? Denn kennen wir erst gar nicht – und, danke, wir haben auch kein Interesse.

Und so sind beide Erdteile sowohl getrennt als auch vereint in ihrer beeindruckenden und kaum rational zu erklärenden Ignoranz für- beziehungsweise gegeneinander.
Was sich die Amerikaner dabei entgehen lassen, möge jeder selbst für sich entscheiden. Doch was wir uns entgehen lassen, wenn wir die Früchte jüngerer amerikanischer Musikproduktion ignorieren, zeigen zwei neue CDs, die einen schönen Überblick über die lebhafte Szene der neutonalen Musik in den Vereinigten Staaten bieten:

DAS „SINGENDE“ ORCHESTER DES CHRISTOPHER THEOFANIDIS

Die erste hier vorzustellende Neuerscheinung ist die erst zweite Veröffentlichung auf dem brandneuen Label „ASO Media“, welches das neue, eigene Label des Atlanta Symphony Orchestra repräsentiert. Höchst angenehm für Hifi-Freunde: Nach der Pleite des audiophilen „Telarc“-Labels, das über Jahrzehnte die prächtigen CDs des Atlanta Symphony Orchestra herausgebracht hatte (s. unter anderem hier), hat ASO Media deren vortreffliche Tonmeister übernommen. Und so ist der markerschütternde Beginn von Christopher Theofanidis erster Sinfonie klanglich eben das: Markerschütternd!

Das erste Wort zu diesem Sinfoniebeginn muss amerikanisch sein: Wow!
Mehr fällt einem erst einmal kaum ein, bei dieser Tour de Force, die Theofanidis mit seinem ersten Sinfoniesatz auf sein Publikum loslässt. Das ist packend und spannend von der ersten bis zur letzten Note. Es fällt allerdings bereits zum Satzbeginn auf, wie sehr Theofanidis das an den Tag legt, was die US-Amerikaner „formulaic approach“ nennen; soll heißen: Er bedient sich bestimmter kompositorischer Stilmittel, wie etwa dem Erzeugen von Echo-Effekten oder dem verschwenderischen Einsatz von Glissandi immer und immer wieder und prägt auf diese Weise eine unverwechselbare kompositorische „Visitenkarte“. Andererseits: Das haben Komponisten wie Carl Nielsen und selbst Dmitri Schostakowitsch auch gemacht. Wer also wollte Theofanidis dieses Vorgehen als musikalische Unmoral vorhalten

Im zweiten Satz dann offenbart sich die wahre Genialität dieses Komponisten, denn er lässt das Orchester „singen“ beziehungsweise vokalisieren: Die Musiker haben klare Anweisung, dass bestimmte Klangflächen so klingen müssen, als würde ein Chor ein lang gezogenes „aaaaah“ oder „ooooh“ singen. Wie verblüffend und täuschend „echt“ dies rüberkommt, lässt einem die Nackenhaare senkrecht stehen. Das ist Gänsehaut pur und zeigt wahre, kompositorische Meisterschaft.
Das Scherzo orientiert sich für meinen Geschmack etwas zu offensichtlich am klassischen Vorbild Beethoven’scher Prägung, und im Finale gibt es dann ein mächtiges, allzu sehr auf Publikumswirksamkeit hinkomponiertes Getöse, dass dem üppig besetzten Atlanta Symphony Orchestra auch seine letzten dynamischen Reserven abverlangt. Das ASO spielt erneut einfach sensationell grandios, was erneut zeigt, dass dieses Orchester unter seinem Leiter Robert Spano einfach der derzeit unerreicht beste Klangkörper des amerikanischen Doppelkontinents ist.

Die introvertiert konservativen „Neruda-Songs“ des erst kürzlich im Jahr 2011 verstorbenen US-Komponisten Peter Lieberson sind nach diesem spektakulären Orchesterfeuerwerk höchster Kajüte dann nurmehr ein „laues Lüftchen“.
Auch sie haben zwar unbestreitbar ihre Qualitäten, können jedoch weder in Sachen kompositorischer Klasse noch in Sachen Publikumswirksamkeit mit der grandiosen Theofanidis-Sinfonie mithalten. Auch die dunkel und eigenwillig gefärbte Stimme der ausführenden Mezzo-Sopranistin Kelley O’Connor ist dabei womöglich nicht jedermanns Sache.

WO ORIENT UND OKZIDENT SICH TREFFEN

Die zweite CD, die unlängst erst erschien und vor Augen führt, was in den USA in der letzten Zeit so komponiert wurde, beinhaltet drei Kompositionen für Klarinette und Orchester der US-Komponisten Rick Sowash, dem 1984 verstorbenen Paul Ben-Haim, dessen Bestreben es war, hebräische und US-amerikanische Musiktraditionen miteinander zu verschmelzen sowie dem „Godfather“ der modernen Filmmusik John Williams, der unter anderem für die Soundtracks für so gleichermaßen unterschiedliche wie reichweitenstarke Filme steht, wie etwa „Star Wars“, „Superman“, „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“, „Indiana Jones“, „Kevin Allein zu Haus“, „Harry Potter“, „Schindlers Liste“ oder „Terminal“ mit Tom Hanks. Aus letztgenanntem Film stammt das charmante, tänzerisch wirkende Stück „Viktor’s Tale“, das ist, was es ist: Charmante, aber etwas belanglose Filmmusik.

Die „Pastorale Variée“ von Paul Ben-Haim datiert aus dem Jahr 1945 und ist ein ganz entzückendes, kleines Klarinettenkonzertchen, das europäischen Schwesterwerken aus der gleichen Zeit in nichts nachsteht und in dem Ben-Haims Verquickung von orientalischen und abendländischen Musikelementen eine ganz faszinierende Mischung ergibt.
Das jüngste Stück stammt von dem aus Ohio stammenden Komponisten Rick Sowash, der sein Klarinettenkonzert erst 2010 fertiggestellt hatte. Sowash’s neue Orchesterwerke werden beinahe schon „automatisch“ in New Yorks Carnegie Hall auf den Spielplan gesetzt. Er gilt als einer der meist gespielten und beim US-Publikum beliebtesten Komponisten der letzten Jahre. Sein Klarinettenkonzert, das auf dieser CD als Weltersteinspielung vorliegt, weiß ebenfalls zu überzeugen, ist aber in europäischen Ohren manchmal doch etwas arg konservativ und zudem auch nicht immer 100%ig geschmackssicher. In diesem Fall würde ich durchaus verstehen, wenn jemand nach dem Hören des Stücks das Wort „Kitsch“ in den Mund nehmen wollte.

Die CD, die auf dem in Deutschland leider nur per Import zu beziehenden kanadischen „Marquis“-Label erschien, ist vom St. Petersburger Sinfonieorchester unter Leitung seines ersten Gastdirigenten Vladimir Lande hervorragend eingespielt worden. Es ist dies nun schon die zweite CD in dieser Besetzung, die www.the-listener.de vollauf überzeugen konnte (die erste findet sich hier). Auch Solist David Drosinos hinterlässt einen vorzüglichen Eindruck, sodass auch diese CD eine warme Empfehlung für alle darstellt, die sich mit neuer Musik aus den USA beschäftigen wollen. Im Vergleich zu der weiter oben besprochenen CD mit Theofanidis- und Lieberson-Kompositionen ist das hier kompositorisch jedoch eine andere, niedrigere, Liga.
Und zwar auch in klanglicher Hinsicht. Zwar ist die hier vorliegende CD alles andere als schlecht aufgenommen, vielmehr sogar ziemlich gut, jedoch wäre es Augenwischerei, wollte man die routiniert guten Leistungen der „Marquis“-Tonmeister auch nur ansatzweise mit dem brachialen Hifi-Bollwerk aus dem Hause „Telarc“... Verzeihung… „ASO Media“ vergleichen wollen.

Hier noch die notwendigen Hintergrundinfos für alle akut Kaufwilligen:

Christopher Theofanidis: Symphony No. 1
Peter Lieberson: Neruda Songs
Atlanta Symphony Orchestra
Robert Spano
Label: ASO Media (Deutschlandvertrieb: Naxos)
Katalog-Nr.: CD-1002 / EAN: 816436010014

„Portals“
Rick Sowash: Concerto for Clarinet and Orchestra
Paul Ben-Haim: Pastorale Variée for Clarinet, Harp and String Orchestra
John Williams: „Viktor’s Tale“
St. Petersburg Symphony Orchestra
Vladimir Lande
David Drosinos (Klarinette)
Label: Marquis (Leider kein Deutschlandvertrieb, somit Import; z. B. über www.jpc.de oder www.amazon.de)
Katalog-Nr.: Marquis 81423 / EAN: 774718142320

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