Zukunftsweisend, altbacken oder einfach nur renitent?Zeitgenössische US-Komponisten feiern Welterfolge mit neu-tonaler Musik - und die deutsche Klassik-Szene verschläft es!von Rainer Aschemeier • 15. Februar 2012 Während wohl kaum jemand abstreiten wollen würde, dass Amerika nach wie vor DER Taktgeber in Sachen Popmusik ist, nach dessen Pfeife die ganze Welt zu tanzen bereit ist, wird doch der Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Denkweise nirgendwo offensichtlicher als im Bereich der sogenannten klassischen Musik oder Kunstmusik. Zeitgenössische, hochgradig namhafte deutsche Komponisten wie etwa Hans Zender, Wolfgang Rihm oder Hans Werner Henze werden in Amerika nur ungern (wenn überhaupt) in die Konzert- und Opernprogramme gehievt. Der Grund? Sie werden als zu „schwierig“, „abstrakt“, „künstlich“ empfunden – kurz und gut: Der Konzertveranstalter bekommt es mit der Angst zu tun. Ein Publikum, das die Musik nicht versteht, die im Konzert erklingt, ist im Musikamerika der weltweiten Finanzkrise ein realer Anlass zur Sorge, denn es könnte beim nächsten Konzert wegbleiben, seine eh immer spärlicher werdenden finanziellen Mittel woanders investieren, als in die nächste als „sperrig“ verschrieene deutsche oder europäische Musikproduktion. Komponisten wie Libby Larsen, Jennifer Higdon, Peter Lieberson, Rick Sowash oder Christopher Theofanidis sind in Europa oder gar Deutschland kaum bekannt. In den USA hingegen sind sie Stars der Klassik-Szene, deren neueste Kompositionen mittlerweile weitaus heißer erwartet werden, als etwa neue Werke von Philipp Glass oder Steve Reich – deren hierzulande als „Minimalismus“ gebrandmarkter Stil es immerhin in den 1980er-Jahren noch früh genug über den großen Teich geschafft hatte, um sich als letzter breitenwirksam zur Kenntnis genommener Stileinfluss der US-Kunstmusik zu etablieren. Dabei müsste uns in Deutschland die Tatsache, dass ein Stück wie „Rainbow Body“ von Christopher Theofanidis seit seiner Erstaufführung im Jahr 2000 inzwischen von über 100 Orchestern und Dirigenten aufgeführt worden ist, doch zu denken geben. Tut es aber nicht! Und so sind beide Erdteile sowohl getrennt als auch vereint in ihrer beeindruckenden und kaum rational zu erklärenden Ignoranz für- beziehungsweise gegeneinander. DAS „SINGENDE“ ORCHESTER DES CHRISTOPHER THEOFANIDIS Die erste hier vorzustellende Neuerscheinung ist die erst zweite Veröffentlichung auf dem brandneuen Label „ASO Media“, welches das neue, eigene Label des Atlanta Symphony Orchestra repräsentiert. Höchst angenehm für Hifi-Freunde: Nach der Pleite des audiophilen „Telarc“-Labels, das über Jahrzehnte die prächtigen CDs des Atlanta Symphony Orchestra herausgebracht hatte (s. unter anderem hier), hat ASO Media deren vortreffliche Tonmeister übernommen. Und so ist der markerschütternde Beginn von Christopher Theofanidis erster Sinfonie klanglich eben das: Markerschütternd! Das erste Wort zu diesem Sinfoniebeginn muss amerikanisch sein: Wow! Im zweiten Satz dann offenbart sich die wahre Genialität dieses Komponisten, denn er lässt das Orchester „singen“ beziehungsweise vokalisieren: Die Musiker haben klare Anweisung, dass bestimmte Klangflächen so klingen müssen, als würde ein Chor ein lang gezogenes „aaaaah“ oder „ooooh“ singen. Wie verblüffend und täuschend „echt“ dies rüberkommt, lässt einem die Nackenhaare senkrecht stehen. Das ist Gänsehaut pur und zeigt wahre, kompositorische Meisterschaft. Die introvertiert konservativen „Neruda-Songs“ des erst kürzlich im Jahr 2011 verstorbenen US-Komponisten Peter Lieberson sind nach diesem spektakulären Orchesterfeuerwerk höchster Kajüte dann nurmehr ein „laues Lüftchen“. WO ORIENT UND OKZIDENT SICH TREFFEN Die zweite CD, die unlängst erst erschien und vor Augen führt, was in den USA in der letzten Zeit so komponiert wurde, beinhaltet drei Kompositionen für Klarinette und Orchester der US-Komponisten Rick Sowash, dem 1984 verstorbenen Paul Ben-Haim, dessen Bestreben es war, hebräische und US-amerikanische Musiktraditionen miteinander zu verschmelzen sowie dem „Godfather“ der modernen Filmmusik John Williams, der unter anderem für die Soundtracks für so gleichermaßen unterschiedliche wie reichweitenstarke Filme steht, wie etwa „Star Wars“, „Superman“, „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“, „Indiana Jones“, „Kevin Allein zu Haus“, „Harry Potter“, „Schindlers Liste“ oder „Terminal“ mit Tom Hanks. Aus letztgenanntem Film stammt das charmante, tänzerisch wirkende Stück „Viktor’s Tale“, das ist, was es ist: Charmante, aber etwas belanglose Filmmusik. Die „Pastorale Variée“ von Paul Ben-Haim datiert aus dem Jahr 1945 und ist ein ganz entzückendes, kleines Klarinettenkonzertchen, das europäischen Schwesterwerken aus der gleichen Zeit in nichts nachsteht und in dem Ben-Haims Verquickung von orientalischen und abendländischen Musikelementen eine ganz faszinierende Mischung ergibt. Die CD, die auf dem in Deutschland leider nur per Import zu beziehenden kanadischen „Marquis“-Label erschien, ist vom St. Petersburger Sinfonieorchester unter Leitung seines ersten Gastdirigenten Vladimir Lande hervorragend eingespielt worden. Es ist dies nun schon die zweite CD in dieser Besetzung, die www.the-listener.de vollauf überzeugen konnte (die erste findet sich hier). Auch Solist David Drosinos hinterlässt einen vorzüglichen Eindruck, sodass auch diese CD eine warme Empfehlung für alle darstellt, die sich mit neuer Musik aus den USA beschäftigen wollen. Im Vergleich zu der weiter oben besprochenen CD mit Theofanidis- und Lieberson-Kompositionen ist das hier kompositorisch jedoch eine andere, niedrigere, Liga. Hier noch die notwendigen Hintergrundinfos für alle akut Kaufwilligen: Christopher Theofanidis: Symphony No. 1 „Portals“ |
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