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The Listener

Blog für klassische Musik und mehr! ...seit 2003

Doomsday, Giallo, Ozploitation...

Rückblick auf den Brüsseler Filmfrühling (Teil 1)

von Frank Castenholz  •  1. Juni 2009

In Brüssel gab es auch diesen Frühling wieder zwei hochkarätige Filmfestivals zu feiern, die Freunde des Abseitigen und Schrägen voll auf ihre Kosten kommen ließ.

Zunächst stand im März die zweite Auflage des Offscreen-Festivals an, diesmal mit den Themenschwerpunkten Interactive cinema, William Castle: king of the gimmick, Doomsday: Post-apocalyptic film, Giallo: Italian genre movies und Ozploitation.

Los ging es mit Mr. Sardonicus von William Castle (1961).


Der Plot ist ein wilder Potpourri aus dem Phantom der Oper, Dracula und anderen „Schurke im Karpartenschloss“-Geschichten: Mr. Sardonicus, der sein entstelltes Gesicht hinter einer Maske versteckt, lockt einen erfolgreichen amerikanischen Arzt auf sein Schloss, das irgendwo in der nebelverhangenen Hochebene von Gorslava, Central Europe liegt. In den Arzt setzt er seine letzte Hoffnung, wieder ohne Maske unter die Menschheit zu treten. Seit er das Grab seines Vaters geschändet hat, um ein glückliches Lotterielos aus dessen Westentasche zu retten, ist sein Gesicht zu einem leichenstarren Grinsen verzerrt.

Castle führt den Titel „King of the Gimnicks“, weil er seine preiswerten Genre-B-Movies mit diversen Elementen anreicherte, um das Publikum interaktiv in die Handlung einzubeziehen. Als Einführung wurden zunächst diverse Trailer gezeigt, in denen der Produzent sich direkt ans Publikum wendet und seine Streifen anpreist. Bei „Mr. Sardonicus“ gab es für die Zuschauer keine Brillen mit Geistersicht (so wie bei „13 Ghosts“), elektrischen Schläge unterm Sitz (wie bei „The Tingler“) oder eine Lebensversicherung für den Fall, dass man vor Schreck einen Herzschlag erleidet, sondern ein Schild mit einem ausgetrecktem Daumen-Symbol. Kurz vor Ende konnten wir per Punishment Poll darüber entscheiden, ob es mit Mr. Sardonicus, dem tragischen Unhold, ein gutes (Daumen hoch) oder schlechtes Ende (Daumen runter) nehmen soll. Ich konnte mich mit meiner schurkenfreundlichen Stimme leider nicht gegen die gnadenlose Masse durchsetzen.

Es sei dahingestellt, ob man mit den Filmen aus der Castle-Schmiede alleine vorm DVD-Player viel Freude haben kann. Im Kino mit hunderten Anderen ist es ein Riesenspaß, und „Mr. Sardonicus“ ist zwar nüchtern betrachtet eigentlich ein recht harmloses, aber durchaus charmantes Gruselvergnügen. Weitere Filme aus der Castle-Reihe habe ich leider verpasst, was ich insbesondere bei „The Tingler“ mit Vincent Price, „13 Ghosts“ und Joe Dantes Hommage an Castle „Matinee“ bedauere.

Der Post-Apocalypse-Teil des Programms begann mit The End Of August At The Hotel Ozone (Konec srpna v Hotelu Ozon) von Jan Schmidt, einer beklemmenden, schmucklosen Dystopie in schwarz-weiß, gedreht 1966 in der Tschechoslowakei.

Eine Gang von Frauen streift ziel- und überwiegend wortlos durch verlassene Wald- und Wiesenlandschaften, auf der Suche nach Wild, Treibstoff und Munition. Als sie einem alten Mann begegnen – vielleicht der letzte Mann, mit dem noch für Nachkommen zu sorgen wäre -, nutzen sie zunächst seine Gastfreundschaft aus, bleiben dem Fremden (Geschlecht) gegenüber aber skeptisch bis feindlich gesinnt, nur die alte Anführerin kennt Männer noch aus der alten Welt und genießt die Begegnung. Für Vinyl-Freunde dürfte der tödliche Konflikt, der sich am Ende um den Besitz eines Grammophons dreht, unvermeidlich sein. Tierfreunde und Zartbesaitete seien ausdrücklich vor dem – aus heutiger Sicht – irritierenden bis verstörenden Umgang mit Tieren gewarnt, der Slogan „no animal was harmed during the making of this movie“ war damals noch nicht etabliert. Ungeachtet dessen: beeindruckend und sehenswert.

Milano Calibro 9 (Fernando Di Leo, 1972) kannte ich zwar schon vom Heimkino, aber erst auf großer Leinwand hat sich mir endlich die volle Pracht dieses poliziottesco offenbart. Statt die Handlung zu referieren: man stelle sich einfach Pekinpahs „The Getaway“ vor, transferiert nach Milan, mit Fiat statt Ford, mit einem für das amerikanische Mainstream-Kino der damaligen Zeit nicht vorstellbaren Maß an Gewalt und Nackttanz, bizarr ausführlichen politischen Diskursen der Kommissare und unterlegt mit einem unglaublich eingängigen, „fetzigen“ Soundtrack. Gastone Moschin als Haftentlassener Ugo Piazza, der von seiner ehemaligen Gang in die Mangel genommen wird, weil bei einem früheren Deal 300.000 Dollar verschwunden sind, spielt minimalistisch, lässt sich nicht in die Karten schauen, weder von seinen Feinden, seinen Freunden, der Polizei noch vom Zuschauer und muss einen Wettbewerb in stoischer, hartkinniger Lässigkeit mit Steve McQueen nicht fürchten. Mario Adorf dabei zuzusehen, wie er einen psychopathischen Killer grandios überzeichnet, ist ein Vergnügen. Die Koteletten wuchern, die beigen Ledermäntel mit Riesenkragen gleißen in der milanesischen Sonne, die Interieurs sind eine psychedelische Wonne…. Doch all die offensichtlichen Schauwerte des Films sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Drehbuch wunderbar ausgetüftelt ist und einen Schluss bereitet, der verblüfft. Wenn ich sicherer im italienischen Genre-Film wäre, würde ich mich gar zur Aussage versteigen, dass Anfangs- und Endszene des Films von einer Wucht und Finesse sind, die – auch dank Adorf – im Polizeifilm ihresgleichen suchen.
Im Anschluss trat im Kinosaal die italienische Band Calibro 35 auf, die sich auf `60s und ’70s-Italo-Exploitation-Soundtracks spezialisiert hat. Falls man sich tatsächlich für jedes Mal, wenn man mit wehendem Mantel die Stufen eines Metroschachts herunterhetzt, eine musikalische Untermalung aussuchen kann, dann wäre meine Entscheidung gefallen.

Meine interessanteste Entdeckung des Festivals war Le Orme (Footprints on the Moon) von Luigi Bazzoni (1975).
Die Übersetzerin Alice (Florinda Boklan) hat die Erinnerung an die vergangenen drei Tage in ihrem Leben verloren und geht auf Spurensuche nach ihrer Vergangenheit. Eine Postkarte führt sie in ein Hotel an der Küste des Ortes Garma. Dort begegnet sie Menschen, die sie scheinbar wieder erkennen, allerdings unter dem Namen Nicole und mit Charakterzügen, die ihr fremd sind. Auf einer zweiten Ebene wird der Zuschauer mit einem wiederkehrenden Alptraum von Alice konfrontiert: Ein Forscher (Klaus Kinski!) setzt einen Astronauten allein auf dem Mond aus und beobachtet, wie er dort zugrunde geht:

Nicht weniger atmosphärisch und enigmatisch als etwa Roegs „Don’t Look Now“, von der Handlung kaum in Genre-Schubladen wie Giallo, Thriller oder Horror zu packen und mit atemberaubend schöner Fotografie, oft in der Totalen, die die Einsamkeit und Verlorenheit von Alice visualisieren, war dies mein Favorit des Festivals. Um die Rätsel des Films zu lösen, müsste man ihn sicherlich öfter sehen (oder sich mit den diversen im Internet kursierenden Interpretationen auseinandersetzen). Von erster Minute an bin ich dem Sog der Bilder erlegen und wusste, dass es ein besonderer Moment ist, diesen Film auf großer Leinwand in 35 mm erleben zu können.

Bei Autopsy von Armando Crispino (1975) kann ich es kurz machen: Die Beschreibung lockte damit, der Film sei „filled with unending images of death, shocking violence, and gratious nudity“, was stimmen mag, allerdings das hölzerne Schauspiel, die stumpfen Dialoge, unfreiwillige Komik (viel Kichern im Saal) und uninspirierte Bebilderung einer langweiligen Story nicht kompensiert. Bis auf die schwungvolle Eingangssequenz, die eine Abfolge von recht kreativ ausgeübten Suiziden zeigt, eine verzichtbare Giallo-Randnotiz.

Bei Baba Yaga von Corrado Farina (1973) hat die Inhaltsangabe aus dem Programmheft ihr Versprechen hingegen (fast) vollends erfüllt: A mysterious sorceress casts a spell over a beautiful young fashion photographer who is sucked into a world of lesbian seduction and shocking sadism.
Ein weiteres Highlight des Festivals, in Anwesenheit des Regisseurs Farina, der wegen kommerzieller Erfolglosigkeit bislang leider nur drei Spielfilme drehen konnte.

Regisseur Corrado Farina beim Q&A

„Baba Yaga“ (auf deutsch absurderweise „Foltergarten der Sinnlichkeit 2“ – wo ist der erste Teil??), Farinas letztes Werk als Regisseur, ist eine vertiable Pionierleistung im Reich der Comic-Verfilmungen, gelang es dem Regisseur doch lange vor „Dick Tracy“ oder „Sin City“, Techniken des Comics, etwa mittels Standbildern und grafischen Überzeichnungen, schlüssig auf die Ebene des Films zu übertragen. Atmosphärisch gelungen, stylish, mit einigen bizarren Traumszenerien und manchen eher (absichtlich) leichten, komischen Abschnitten, kann man „Baba Yaga“ allenfalls vorwerfen, dass die Inszenierung recht harmlos bleibt und es sich eher um ein unblutiges Märchen für Erwachsene denn um einen wirklich schlüpfrigen und drastischen Schocker handelt.

Zum Abschluss des ersten Teils dieses Rücblicks wenden wir unseren Blick nun nach Australien und widmen uns zwei Filmen aus der Ozploitation-Reihe des Festivals, einem Klassiker und einem hidden treasure:

Den Inhalt von Mad Max (von George Miller, 1979) setze ich bequemerweise als bekannt voraus. In restaurierter neuer Kopie war es eine große Freude, die Erinnerung an diesen Meilenstein mal wieder aufzufrischen und meine Wertung zu überprüfen. Obwohl „Mad Max“ immer wieder unter „Postapokalypse“ abgespeichert wird, ist dieser Hintergrund dem ersten Teil kaum anzumerken, allenfalls gelegentliche beiläufige Hinweise (warum ist der Sprit so wertvoll?, was läuft da immer in den Nachrichten?) weisen auf eine Welt, in der sich einige wesentliche gesellschaftliche Koordinaten verschoben haben. Bemerkenswert an dem Film fand ich zunächst, dass es sich eigentlich um einen einzigen langen Prolog zu „Mad Max 2“ handelt – warum wurde Max Rockatansky mad? Das scheint mir im Rückblick recht wagemutig vom Regisseur gewesen zu sein, der mit dem großen Erfolg des Films kaum rechnen konnte. Der Showdown des Films, Max’ Abrechnung mit der Rockerbande, von dem man konventionellerweise erwartet hätte, dass er einen Großteil der Handlung einnimmt, wird zum Schluss in wenigen knackigen Minuten abgehandelt. Zuvor besteht „Mad Max“ vornehmlich aus der meisterlich verkoppelten Bebilderung (und Vertonung) eines Motorenfetisch (insofern nah am Nihilismus von „Vanishing Point“) und eines gar nicht mal so unschwulen Leder-/Uniformfetisch (von Max ist es nicht mehr weit zu Batmans Nippel-Dress in „Batman & Robin). Passt schon.

Long Weekend von Colin Eggleston (1978) dürfte im Gegensatz zu „Mad Max“ recht wenigen Filmfans bekannt sein: Ein schnöseliges Ehepaar, in deren Beziehung es heftig knirscht, fährt übers Wochenende zum Campen in die Wildnis. Die Spannungen, die sich zwischen den beiden unsympathischen Protagonisten ergeben, werden von der Natur reflektiert, und ihr gleichgültiger, respektloser Umgang mit der Umwelt wird nicht ohne Folgen bleiben. Mother nature strikes back!
Ohne belehrenden Öko-Pathos, aber auch ohne drastischen Attacken mit klarem Feindbild a la „The Birds“, hat Eggleston einen eigentümlichen Film gedreht, der Psychostudie und subtiler Naturhorror zugleich ist. Mutig, auf Charaktere zu verzichten, die dem Zuschauer eine Identifizierung ermöglichen. Auch wenn dadurch das Mitleid mit dem Schicksal des Paares begrenzt ist und man seine Distanz zum Geschehen nie ganz verliert, hat der Film durch seine ganz eigene Atmosphäre, die auf der Tonspur durch allerlei natürliches Brüllen, Tschirpen, Zischen genährt wird, durchaus reichlich Spannungs- und Sehwert. Die 92 Minuten werden durch die nüchterne, höhepunktarme, gemächliche Erzählweise ohne große Knalleffekte allerdings recht lang. Ein Hollywood-Remake ist (trotzdem) in Planung. Irgendwie schwer vorstellbar.

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